Alles endete mit der Explosion einer chinesischen Atombombe auf Hawaii. Nicht in der Wirklichkeit, versteht sich, sondern nur in einem strategischen „Kriegsspiel“, das das „Zentrum für neue amerikanische Sicherheit“ im letzten Jahr ausrichtete, um Eskalationsstufen internationaler Konflikte besser zu verstehen. Mit verteilten Rollen spielten die Politikwissenschaftler durch, was passieren kann, wenn die USA und China in einen nicht mehr kontrollierbaren Interessenkonflikt hineinstolpern. „Keine der Parteien wollte es“, so die Zusammenfassung der Autoren, ,,aber beide haben Linien überschritten, die für die andere Seite ,rote Linien‘ waren. Und weil keiner nachgeben wollte, nahm die Eskalation ihren Lauf bis zur Atombombe.“
Solche „Kriegsspiele“ sind in der Szene der Washingtoner Think Tanks nicht ungewöhnlich. Neu ist, dass die Ergebnisse auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden, in der abendlichen Talkshow und am heimischen Küchentisch. Droht ein neuer Weltkrieg? Kann die Eskalation in der Ukraine so weit gehen, dass Russland Atomwaffen einsetzt? Oder ist gar nicht der Konflikt mit Russland, sondern der mit China die größte Gefahr für den Weltfrieden?
Eine gewisse Trendwende ist unübersehbar
Ängste und Stimmungen in den USA lassen sich nicht einfach auf einen Nenner bringen, und sie verteilen sich auch nicht in der üblichen Weise auf die beiden großen Parteien und die ideologischen Lager. Eine gewisse Trendwende ist aber unübersehbar. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine vor einem Jahr ist die Kriegsangst gewachsen. War zu Beginn des russischen Angriffs die Unterstützung für Waffenlieferungen parteiübergreifend erstaunlich groß, hat sich der Wind in den letzten Monaten gedreht. Die Skepsis wächst, wie neue Umfragen zeigen. Dass man die Ukraine unterstützen müsse, mit Geld und auch mit Waffen, meinte eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner im März 2022. Damals sagten 31 Prozent, dass sie mit der Hilfe einverstanden seien, 42 Prozent forderten von der eigenen Regierung sogar weitergehende militärische Hilfe einschließlich von Panzern. Es war der Präsident selbst, der die Bürger damals zur Zurückhaltung ermahnen musste: „Die Idee, dass wir hier Offensivwaffen schicken und Panzer und Flugzeuge mit eigenen Leuten in diesen Konflikt senden – das muss jeder verstehen, was das bedeutet, und niemand sollte sich etwas vormachen. Das wäre der Dritte Weltkrieg“, sagte Joe Biden damals.
Heute liegen die Dinge anders. Die Regierung bringt immer neue Finanzhilfen für die Ukraine auf den Weg, und auch Panzer werden geliefert. Kampfjets dagegen und Langstreckenwaffen sowie eigene Soldaten – das ist immer noch tabu. Aber gilt das auf Dauer? Während die Regierung die Militärhilfe ausgeweitet hat, ist die Bevölkerung vorsichtiger geworden. Dieselbe Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew zeigt knapp ein Jahr später ein neues Stimmungsbild: Mehr Waffenlieferungen fordern statt 42 Prozent nur noch 20 Prozent der Amerikaner, während jetzt 26 Prozent meinen, es werde zu viel Finanz- und Militärhilfe geleistet. Unter Anhängern der Republikaner ist dieser Anteil sogar von neun auf 40 Prozent gestiegen.
Opposition machen Figuren an den Rändern
Das Meinungsbild ist bislang jedoch nicht klar genug, um es sich parteipolitisch zunutze zu machen. Opposition gegen den Kurs der Biden-Regierung machen bislang nur Figuren am rechten und linken Rand, wobei der linke Rand in den USA (bislang noch) viel schwächer ausgeprägt ist als in Europa. Die Parteiführung der Republikaner, also die eigentliche Opposition, meidet das heikle Thema und will offenbar erst abwarten, wie sich die Stimmung weiter entwickelt. Denn noch sind die amerikanischen Konservativen gespalten in ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine. Russland als Feind zu betrachten und eine harte Linie von der eigenen Regierung gegenüber Moskau zu verlangen, das ist für viele Konservative selbstverständlich.

Andererseits gibt es auch gerade unter Republikanern viele, die auf keinen Fall neue Kriege beginnen wollen, auch keine Stellvertreterkriege, mit denen die USA die denkbar schlechtesten Erfahrungen gemacht haben. Konservative Wähler wollen auch keine kostspieligen Abenteuer wie im Irak oder Afghanistan, weil das auf Dauer zu höheren Steuern führt. Erst da, wo die amerikanische Sicherheit direkt bedroht ist, erwarten diese Wähler von ihrer Regierung Härte. In diesem Sinne sehen viele China und nicht Russland als den strategischen Gegner, den man in die Schranken weisen muss.
Nur Trump kritisiert Biden lautstark
Lautstark opponiert bislang nur Donald Trump gegen die Politik Bidens in der Ukraine. „Er führt uns in den Dritten Weltkrieg“, warnte der Ex-Präsident neulich. Keiner der etablierten republikanischen Senatoren, Abgeordneten und Gouverneure würde das in dieser Zuspitzung sagen. Doch vielleicht erfühlt Trump die Stimmung beim „kleinen Mann“ besser als die Wortführer der Partei. Tucker Carlson, der einflussreichste konservative Kommentator, der mit seiner abendlichen Show bei Fox Millionen von Zuschauern erreicht, haut jedenfalls längst in dieselbe Kerbe und fordert ein Ende der Waffenlieferungen. Dass die Stimmung in den USA vollends kippen könnte, hält offenbar auch der frühere britische Premierminister Boris Johnson für möglich, der vor wenigen Tagen auf den politischen Bühnen Washingtons vor einem Stimmungsumschwung gewarnt hat: „Ich finde das abstoßend, was Tucker Carlson da verbreitet, und wundere mich, wie viel Einfluss er auf die Republikaner hat.“ Zugleich warf Johnson dem Fox-Journalisten vor, Sympathien für Putin zu hegen. Da könnte etwas dran sein. Denn zur komplizierten und durchaus widersprüchlichen Gefühlslage amerikanischer Konservativer gehört auch eine gewisse Bewunderung für Putin als vermeintlichem Bewahrer von Tradition und Glauben, einem Gegenpol zur westlichen Dekadenz und der in den USA mächtigen Gender-Ideologie.
Der jetzt startende Vorwahlkampf der amerikanischen „Primaries“, die offiziell im Januar 2024 beginnen, dürfte schon in den nächsten Wochen dafür sorgen, dass sich mehr und mehr Republikaner klar positionieren müssen. Folgen sie den Populisten wie Trump und Tucker Carlson? Fest steht nur, dass von der jetzt amtierenden Regierung und den führenden Demokraten im Kongress auf keinen Fall eine andere Ukraine-Politik zu erwarten ist. Ganz unverhohlen (wenn auch nicht unbedingt öffentlich) wird in Regierungskreisen darauf hingewiesen, dass eine Schwächung Russlands, wie sie durch den Ukraine-Krieg stattfindet, im strategischen Interesse der USA ist. Und auch wenn in der politischen und militärischen Führung Einigkeit darüber herrscht, dass China und nicht Russland der potente Gegner der kommenden Jahre und Jahrzehnte ist, gilt die nachhaltige Schwächung und Isolierung Russlands als wünschenswert, auch um sich sodann ganz auf die strategische Auseinandersetzung mit China konzentrieren zu können.
Hinter vorgehaltener Hand werden Grenzen deutlich gemacht
Allerdings will man selbst im Regierungslager dem ukrainischen Präsidenten keinesfalls jeden Wunsch erfüllen. Man nimmt ihm übel, dass er versucht hat, den Einschlag einer Rakete in Polen als russischen Angriff darzustellen, obwohl es sich um eine ukrainische Rakete handelte. Während Biden öffentlich an Selenskyjs Seite steht, werden im Weißen Haus hinter vorgehaltener Hand die Grenzen des Vertrauens deutlich gemacht: In einen direkten Krieg mit Russland will man sich nicht hineinziehen lassen.
Für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen sind die Voraussetzungen bis auf weiteres schlecht. „Für beide, Ukrainer und Russen, gibt es gute Gründe, sich an den Verhandlungstisch zu setzen“, schrieb Christopher Caldwell in der letzten Woche in der „New York Times“, „doch die Biden-Regierung hat andere Pläne. Sie setzt darauf, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann.“ Caldwell sieht die USA längst als Kriegspartei, weil sie außer Geld und Waffen auch die Geheimdienstinformationen liefert, die den modernen Krieg mit ferngesteuerten Waffen und Drohnen bestimmen: „So sind die USA an den Einsätzen ihrer Waffen direkt beteiligt. Es sind die USA, die in der Ukraine kämpfen.“
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