Der Balkan war West- und Nordeuropäern schon immer fremd: ein lange osmanisch beherrschter, barbarisch wirkender Zipfel im Südosten Europas mit unübersichtlich vielen Völkern und Volksgruppen, rauen Sitten und dunklen Traditionen, verworrener Geschichte und ungewisser Zukunft. Wer weiß in Berlin, Brüssel oder London, dass die Slowenen im 8. Jahrhundert dem Frankenreich angehörten und dass Kroatien im 10. Jahrhundert ein katholisches Königreich war? Weil diese Völker, Sprachen und Sitten, Kulturen und Geschichten den Mächtigen im Westen fremd blieben, wünschten sie sich meist eine übersichtliche Ordnung.
Nach dem Ende des Habsburgerreichs 1918 schien das "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" die Zauberformel für eine einheitliche Balkanordnung zu sein, obgleich die Slowenen und Kroaten von den Serben durch mehr als ein halbes Jahrtausend Geschichte und Kultur getrennt sind. So lief von Anfang an eine unsichtbare Kulturgrenze durch diesen Kunststaat: zwischen dem katholisch geprägten, von lateinischer, italienischer und österreichischer Kultur inspirierten Slawentum der Slowenen und Kroaten - und dem orthodox geprägten, byzantinisch wie osmanisch beeinflussten Slawentum der Serben, Makedonen und Montenegriner. Ganz zu schweigen von den Albanern im Kosovo wie in Mazedonien, die keine Slawen sind.
Obgleich das erste Jugoslawien rasch zur serbischen Königsdiktatur verkam, erklärten die Alliierten im Zweiten Weltkrieg ein neues Jugoslawien zum Kriegsziel. Stalin, Churchill und Roosevelt unterstützten ab 1943 den kommunistischen Partisanenführer Josip Broz, genannt Tito. Als dieser 1948 mit Stalin brach, war er im Westen ein Superstar. Als sich Ende der 1980er Jahre in Slowenien und Kroatien demokratische Bestrebungen regten, ignorierte das die demokratische Welt.
Religionskriege waren das nicht
1989 stimmte das Kosovo-Parlament unter dem Druck der serbischen Miliz seiner eigenen Entmachtung zu. Milo evi entdeckte den serbischen National-Kommunismus und hob die von Tito zugestandene Autonomie des Kosovo auf. Der Westen schaute weg. Serbische Zeitungen fabulierten über eine Weltverschwörung gegen Serbien, ausgehend vom Vatikan und von Teheran: Eine Kampfansage an die Katholiken und Muslime Südosteuropas. Die Lunte zum Krieg brannte.
1990 ging es Schlag auf Schlag: Die slowenische Teilrepublik strich das Wort "sozialistisch" aus ihrem Namen, stellte die Gesetze des Landes über die des Bundes. Schließlich votierten 95 Prozent der Slowenen für die Unabhängigkeit. Kroatien hielt freie Wahlen ab und plädierte mit ähnlicher Mehrheit für die Souveränität. Vor genau 30 Jahren, am 25. Juni 1991, erklärten die Parlamente in Ljubljana und Zagreb die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens.
Truppen der von Serbien kontrollierten Bundesarmee blockierten daraufhin alle Grenzübergänge Sloweniens. Der Krieg begann: blutig und kurz gegen Slowenien, blutiger und länger gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Religionskriege waren das nicht: Eine Mehrheit der Serben ist ungetauft; "orthodox" bezeichnet hier den Anspruch einer Kirche auf ihr "kanonisches Territorium". Die Friedensappelle des Papstes und der katholischen Bischöfe Südosteuropas fanden keinen Partner auf orthodoxer Seite. Serbische Truppen zerstörten katholische Kirchen wie Moscheen.
Der Westen sandte falsche Signale
Slowenien und Kroatien wollten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, doch Belgrad beharrte auf diktatorisch-zentralistischen Strukturen. US-Außenminister James Baker meinte noch im Juni 1991 bei einem Vortrag in Belgrad, die USA hielten an der Einheit Jugoslawiens fest. Die serbischen Generäle der "Jugoslawischen Bundesarmee" sahen darin Grünes Licht für den Angriff.
In Ljubljana und Zagreb hoffte man auf den Westen, doch das vereinte Europa ignorierte die europäischen Bekundungen der beiden jungen Demokratien. Brüssel kündigte sogar Finanzhilfen "zur Überwindung der Krise in Jugoslawien" an, um den Bundesstaat zu erhalten. Als der Krieg in Kroatien immer klarer die horriblen Gemetzel serbischer Terrorverbände zeigte, beruhigte der Westen sein Gewissen: Alle seien "irgendwie gleich schuld am Krieg", hieß es. Eine Anerkennung Sloweniens und Kroatiens wurde mit dem Argument hinausgezögert, eine Reform Jugoslawiens wäre besser gewesen als seine Auflösung. Auch die Fehlinformation, eine zu frühe Anerkennung habe den Krieg ausgelöst, hielt sich zäh, obwohl die Aggression im Juni 1991 begann, die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch die EG-Staaten aber erst im Januar 1992 folgte. Bis dahin hatten Brüssel und Washington nur falsche Signale gesandt.
Auch nach der völkerrechtlichen Anerkennung verweigerte der Westen Kroatien und Bosnien-Herzegowina die Möglichkeit, sich wirksam zu verteidigen. Der Westen hätte die militärischen Möglichkeiten gehabt, die Vergewaltigungen und Vertreibungen zu stoppen, tat es aber nicht. Er gab den Regierungen in Zagreb und Sarajewo auch nicht die Mittel in die Hand, ihre Bürger zu schützen. Die Täter waren schwer bewaffnet, die Opfer lange wehrlos. Viel zu lange erklärte der Westen, es gebe nur eine politische, keine militärische Lösung. Unterdessen schufen die Gewalttäter Fakten. Das vereinte Europa, das Bosnien-Herzegowina am 6. April 1992 anerkannte, sah dem Terror, den Vertreibungen, den Massenvergewaltigungen, der Errichtung von Konzentrationslagern, ja selbst dem Genozid von Srebrenica tatenlos zu.
Frieden, aber keine Gerechtigkeit
Als Kroatien endlich die serbisch besetzten und verwüsteten Gebiete in West-Slawonien und der Krajina in Blitzkriegen zurückeroberte, wurden es von UNO und EU dafür gerügt. Unter Aufsicht der UNO konnten die Terroristen des serbischen Freischärlers Arkan noch jahrelang in Ost-Slawonien plündern, rauben und morden. Ähnlich benahm sich das Regime der "Republika Srpska" in Bosnien.
Von jedem neuen Gewaltausbruch war der Westen neu überrascht: in Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und schließlich im Kosovo. Viele Experten hatten seit Jahren gewarnt, dass die Entrechtung und Unterdrückung der Albaner zur Explosion führen würde. In Mazedonien behinderte der Westen zuerst die Unabhängigkeit und demütigte das Land, dem er Griechenland zuliebe sogar seinen Namen verbot; dann nutzte er Mazedonien als Operationsbasis, ohne das kleine Land wirtschaftlich und politisch zu stabilisieren.
Noch komplexer ist die Lage bis heute in Bosnien-Herzegowina: Das Abkommen von Dayton beendete 1995 den Völkermord im Vielvölkerstaat, doch von Stabilität oder Gerechtigkeit kann bis heute keine Rede sein. In Dayton wollten die Amerikaner lediglich den Krieg, der Hunderttausenden das Leben oder die Heimat gekostet hatte, beenden. Der Vertrag von Dayton war kein Sieg über das Böse, sondern ein Kompromiss mit dem Bösen: Die Kriegsverbrecher und ihre Erben bekamen ihren eigenen Teilstaat, die Republika Srpska. 49 Prozent des Landes fielen jenen zu, die mit Massenmord, Vergewaltigung, Folter und Vertreibung versucht hatten, sich einen Staat zu errichten. Zwar verfehlten sie ihr Ziel einer Vereinigung aller serbischen Siedlungsgebiete, doch hatten die Kriegsverbrecher nun ihr eigenes, international garantiertes Hoheitsgebiet.
Heute gehören mit Slowenien und Kroatien die zwei westlichsten Länder des untergegangenen Kunststaates Jugoslawien dem vereinten Europa an. In ganz Südosteuropa aber hat der Krieg Scherben, Ruinen und Wunden hinterlassen - in der gesellschaftlichen Struktur wie in den Herzen der Menschen.
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