Nach dem Sieg der radikalislamischen Taliban stellt sich die Frage nach den außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten der Taliban. Als neue Herren Afghanistans haben sie nun völlig neue Optionen – möglicherweise mehr sogar noch als die alte Regierung, da diese weitgehend vom Westen abhängig war. Die Taliban hingegen können sich nun bei der Suche nach neuen Partnern in allen Himmelsrichtungen umblicken.
Blick nach Westen: Hilfe unter gewissen Bedingungen
Deutschland, die USA und weitere westliche Staaten haben bereits kurz nach der Machtübernahme mitgeteilt, unter gewissen Voraussetzungen Hilfsgelder fließen zu lassen. Die Taliban müssten Minderheiten- und Frauenrechte sowie einige demokratische Grundprinzipien garantieren, etwa die Pressefreiheit. Heiko Maas (SPD) drohte noch wenige Tage vor dem Fall Kabuls: „Wir werden keinen Cent mehr Afghanistan geben, wenn die Taliban komplett übernommen haben.“ Bald darauf hatte Maas eine bemerkenswerte Kehrtwende vollzogen: „Es gibt in Afghanistan eine neue Realität, ob uns das gefällt oder nicht“, so der Außenminister. „Deshalb muss man den Menschen in Afghanistan jetzt helfen, und dafür muss man auch mit den Taliban sprechen“, erklärte Maas ferner. Vielleicht sogar noch wichtiger als Hilfe für notleidende Afghanen ist es dem Westen, neue Flüchtlingsströme zu verhindern und zugleich ein Gedeihen des internationalen Dschihad-Terrorismus zu vermeiden. US-Präsident Joe Biden hatte diesbezüglich deutlich gemacht, in diesem Falle nicht vor neuerlichen Militäreinsätzen zurückzuschrecken. Diese „over the horizon“-Strategie indes beinhaltet den Ansatz, internationale Terror-Herde nicht mehr mit dauerhafter Militärpräsenz vor Ort zu befrieden, sondern durch gezielte Luftschläge oder den Einsatz von Spezialkräften auszuschalten. Aus politischen Kreisen heißt es im Übrigen, die USA hätten schon vor der Machtübernahme mit den Taliban Absprachen getroffen, nach denen diese dafür sorgen sollten, vor allem den IS niederzuhalten. Im Gegenzug würden sie von militärischen Interventionen der USA verschont bleiben.
Die Taliban selbst haben großes Interesse an Verbindungen zum Westen: „Wir wollen starke und offizielle diplomatische Beziehungen zu Deutschland“, sagte Zabiullah Mudschahid, außenpolitischer Sprecher der Taliban. Denn bisher stammte ein Großteil des afghanischen Staatshaushaltes aus westlichen Hilfsmitteln – diese Quellen sind nun fürs Erste versiegt.
Die Versorgungslage im Land ist katastrophal – durch Misswirtschaft, Korruption, Dürre, Terrorgefahr – die Liste der Gründe hierfür ist lang. In Anbetracht dessen ist der Wunsch der Taliban nach diplomatischen Beziehungen zum Westen – und nach dessen Geld – nachvollziehbar.
Blick nach Osten: Chinas Gier nach Einfluss
Im Osten hingegen scharrt bereits ein neuer außenpolitischer Partner mit den Hufen: China hatte schon unmittelbar nach der Einnahme Kabuls die Taliban als neue Machthaber anerkannt und diplomatische Beziehungen, verbunden mit Hilfsmitteln, in Aussicht gestellt. Das Kalkül Pekings ist klar: In Afghanistan winken Bodenschätze im Wert von Billionen Dollar, die nur darauf warten, mit Hilfe chinesischer Investitionen gehoben zu werden. Die Ausweitung des eigenen Einflusses und die Stabilisierung der Region, die ja auf der sogenannten „neuen Seidenstraße“ Chinas liegt, sind ebenfalls Faktoren. Auch eine gemeinsame Grenze ist Grund genug für Peking, für ein stabiles Nachbarland Sorge zu tragen. Die Taliban ihrerseits werden in den Chinesen die Möglichkeit erblicken, vom Westen unabhängiger zu werden.
Blick nach Norden: Russlands zweite Chance?
Neben den Chinesen sind es auch die Russen, die nach dem Sieg der Taliban ihre diplomatische Vertretung in Kabul weiterhin betreiben. Hintergrund dessen ist jedoch wohl weniger das herzliche Verhältnis Moskaus zu den Taliban als die Einsicht, auf diese Weise den Westen demütigen zu können. Unabhängig davon hat Russland großes Interesse an einem stabilen Afghanistan. Denn auch die Russen fürchten eine neue Ausbreitung des islamistischen Terrors – den auch die Russen nur zu gut kennen, etwa in Tschetschenien. Russland kann außerdem als Schutzmacht ehemaliger Sowjetrepubliken auftreten, die unmittelbar an Afghanistan angrenzen. Demzufolge gehen die Russen pragmatisch mit den neuen Herren Kabuls um.
Unklar ist allerdings, inwiefern auch die Taliban an guten Verhältnissen zu Moskau interessiert sind. Finanzhilfe größeren Umfangs können sie jedenfalls nicht aus Russland erwarten. Aber eine zügige diplomatische Anerkennung durch Russland und die unter russischem Einfluss stehenden Nachbarländer käme den Taliban durchaus gelegen, um ihre Macht zu festigen.
Blick in den Orient: Partner, aber keine Freunde
Es gibt weitere Akteure, die bei den außenpolitischen Optionen der neuen Taliban-Regierung eine Rolle spielen dürften: die Türkei, Katar und Pakistan. Katar hat sich in der Vergangenheit als der zentrale Vermittler zwischen den Taliban und dem Westen in Stellung gebracht, seit Jahren ist das Taliban-Büro in der Hauptstadt Doha beheimatet. Die Türkei sah im Abzug der USA die Chance, als alleinige Militärmacht in Afghanistan zu verbleiben – wurde von den Taliban aber ebenso des Landes verwiesen. Die mannigfaltigen Beziehungen Pakistans zu den Taliban sind undurchsichtig. Einerseits sind pakistanische Geheimdienste dafür berüchtigt, die Taliban in der Vergangenheit unterstützt zu haben.
Andererseits ist dem Land mit der als Durand-Linie bekannten, knapp 2.500 Kilometer langen Grenze daran gelegen, ein stabiles Afghanistan zum direkten Nachbarn zu haben. Mit diesen Akteuren teilen die Taliban ihre Vorliebe für einen traditionellen Islam. Dennoch kann angenommen werden, dass die Taliban unter keinen Umständen zu große Einflussnahme dieser Länder in ihre inneren Angelegenheiten dulden werden.
Prognosen für die künftige Außenpolitik
Letztlich wird den Taliban in erster Linie daran gelegen sein, ihre noch junge Herrschaft zu festigen – dies kann über Hilfsleistungen zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage sowie durch diplomatische Anerkennung geschehen. Von wem sie nun das eine oder das andere erhalten, dürfte nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Der Westen, aber auch China und Russland interessieren sich vor allem für ein stabiles Afghanistan, von dem weder gewaltige Flüchtlingsströme noch eine erneute Terrorgefahr ausgehen.
Vor diesem Hintergrund erscheint es realistisch, dass die Taliban garantieren werden, den Dschihad-Terrorismus im eigenen Land einzudämmen.
Sollten es die Taliban darüber hinaus schaffen, ein Mindestmaß an Menschenrechten zu wahren, werden mit Sicherheit in Kürze wieder Hilfsleistungen aus dem Westen fließen. So wird es darauf hinauslaufen, dass die Taliban als neue Machthaber Afghanistans anerkannt werden – von China, Russland und der islamischen Welt, aber auch vom Westen.
Eine Triebfeder der Taliban-Politik darf jedoch bei der Analyse nicht vergessen werden: Die Sehnsucht nach afghanischer Unabhängigkeit. Diese Ziel führte in den 80er-Jahren zum Widerstand der Mudschahedin gegen die Sowjets, es war die Wurzel für die Konflikte mit den westlichen Truppen und es wird auch weiterhin der Grund dafür sein, warum die Taliban den Einfluss fremder Mächte auf die Gestaltung ihrer inneren Angelegenheiten unter allen Umständen eindämmen werden.
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