Schon Aristoteles wusste, dass der Weg zur Tugend in der „Goldenen Mitte“ zwischen zwei Extremen von Übermaß und Mangel liegt. So liegt die Freigiebigkeit zwischen Geiz und Verschwendung, der Mut in der Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit und das Selbstbewusstsein zwischen Selbstzweifeln und Selbstüberschätzung. Die Mesotes-Lehre zeigt daher, wie ein gutes und glückliches Leben durch das Streben nach Ausgeglichenheit und das Vermeiden von Extremen erreicht werden kann.
Mit Blick auf die Kapitalanlage geht das vatikanische Dokument „Mensuram Bonam“ einen ähnlichen Weg. „Mensuram Bonam“ bedeutet übersetzt „Ein gutes Maß“ und ist der von der Kirche vorgeschlagene Leitfaden, um Investmententscheidungen in das Licht des Evangeliums und der katholischen Soziallehre zu stellen. Im Kern geht es um die Frage: Wie lassen sich finanzielle Renditen und christliche Werteorientierung vereinbaren? Damit bietet das Dokument der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften katholischen Kapitalanlegern ethische Leitlinien für glaubenskonforme Investments. Ziel des Leitfadens sei es, dass Menschen sich von ihrem Glauben begleiten lassen können, wenn es um Investitionen gehe, betont der Präsident der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften, Kardinal Peter Turkson. „Mensuram Bonam“ versteht sich daher ausdrücklich als „Ausgangspunkt und Aufruf zum Handeln“: Nicht neue Techniken der Geldanlage stehen im Vordergrund, sondern die Ausrichtung des gesamten Anlageprozesses an Glauben, Vernunft und Gewissen.
Das „gute Maß“ als wichtiger ethischer Filter
„Mensuram Bonam“ knüpft an Jesu Bild vom „überfließenden Maß“ an: Gemeint ist ein Maßstab, der Beziehungen, Verantwortung und Barmherzigkeit ins Zentrum rückt. Für Kapitalanleger bedeutet das zweierlei. Erstens: Es gibt einen geordneten geistlichen und rationalen Prozess, der hilft, Treuhandpflichten und Glaubenspflichten gemeinsam zu betrachten – ohne sich auf eine bloße Checkliste zu reduzieren. Zweitens: Es geht um die langfristige Entwicklung verlässlicher Messkriterien für ganzheitliche menschliche Entwicklung. Dabei anerkennt das Dokument internationale Rahmenwerke wie die UN-Nachhaltigkeitsziele, betont aber zugleich, dass keine Kennzahl das Gewissen ersetzt.
Tragend sind die klassischen Prinzipien der katholischen Soziallehre (KSL): die unverfügbare Würde der Person, das Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität, Teilhabe und die universale Bestimmung der Güter; hinzu treten die von jüngeren Lehrschreiben bekräftigten Leitbegriffe integrale Ökologie, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und die besondere Option für die Armen. Für Anleger folgt daraus: Märkte sind in ein Beziehungsgeflecht eingebettet, das immer auch moralisch zu verantworten ist. Wirtschaftliche Zielgrößen dürfen sich nicht vom Maß des Menschlichen lösen.
Adressaten von „Mensuram Bonam“ sind alle Katholiken, die Vermögen anlegen: Aufsichts- und Leitungsgremien katholischer Einrichtungen, Orden, Stiftungen, Bistümer – und private Anleger, die ihren Glauben auch im Umgang mit Kapital leben wollen. Der erste Schritt ist strategisch: Glaubensüberlegungen werden mit Risikobudget, Renditeziel und Zeithorizont zusammengeführt, sodass neben finanziellen auch ethische „Vermögenswerte“ und „Verbindlichkeiten“ sichtbar werden. Fortschritte braucht es nicht nur in Portfolios, sondern auch in Governance, Kompetenzaufbau und laufender Überwachung der Zielerreichung. „Mensuram Bonam“ empfiehlt ausdrücklich, KSL-Prinzipien in den gesamten Anlageprozess einzubetten und deren Einhaltung fortlaufend zu prüfen.
In der praktischen Umsetzung nennt der Leitfaden drei komplementäre Wege. Erstens das aktive Engagement: Eigentumsrechte werden genutzt, um den Dialog mit Unternehmen zu führen, Offenlegung zu verbessern und Strategien an Geist und Zielrichtung der Soziallehre auszurichten. Engagement wird damit zum Ausdruck gelebter Solidarität und zur Schule der Unterscheidung. Zweitens die Ausweitung: Dort, wo es vertrauenswürdige, glaubenskonforme Anlageoptionen noch nicht in Fülle gibt, sollen katholische Anleger zur Entwicklung beitragen – etwa durch Kooperationen, Impact-Ansätze oder regionale Projekte, die konkrete soziale und ökologische Wirkungen entfalten. Drittens der Ausschluss: Wo Produkte oder Praktiken der Glaubens- und Sittenlehre widersprechen, müssen Investitionen unterbleiben – auch wenn ein Emittent in sogenannten ESG-Ratings (Environment, Social und Governance, also Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungsprinzipien) gut abschneidet. ESG ist hilfreich, ersetzt aber nicht die Maßstäbe der Soziallehre.
Klare rote Linien für die Kapitalanlage
Der Anhang von „Mensuram Bonam“ nennt exemplarisch 24 sensible Kategorien, die zum Ausschluss führen können. Genannt werden etwa Beteiligungen an Abtreibung, Pornografie, Todesstrafe, Menschenrechtsverletzungen, Kinderarbeit und Sklaverei; außerdem Waffen einschließlich Nuklearwaffen, aggressive Geschäftspraktiken, Korruption, Diskriminierung, gravierende Umweltverstöße und Verweigerung des Zugangs zu elementaren Gütern. Wo Sachverhalte gemischt sind, fordert der Text vertiefte Prüfung, Schwellenwerte und gegebenenfalls den Vorrang des Ausschlusses. Das Dokument formuliert daher eine neue Investmentkultur, die auf bewusster Gewissensbildung der Entscheidungsträger, Verankerung glaubenskonformer Ziele in Mandaten und Richtlinien, Auswahl passender Partner und Etablierung einer „doppelten Buchführung“ beruht, die auch ethische Vermögenswerte und Verbindlichkeiten sichtbar macht. Nicht zuletzt lädt das Dokument dazu ein, die Schritte der Analyse im Gebet zu begleiten sowie die Heilige Schrift und die Tradition als Quellen der Unterscheidung zu nutzen.
Lesehinweis: Die Deutsche Sektion der Stiftung Centesimus Annus pro Pontifice (CAPP) hat „Mensuram Bonam“ aus dem Englischen übersetzt und mit Erläuterungen aus wissenschaftlicher Sicht des Moraltheologen und christlichen Sozialwissenschaftlers Peter Schallenberg, des Sozial- und Wirtschaftsethikers Elmar Nass und des Unternehmers und CAPP-Mitglieds Ulrich Schürenkrämer im Herder-Verlag herausgegeben.
Der Autor ist Germanist und Prorektor der Allensbach Hochschule (Konstanz). Er ist als Publizist und Berater tätig.
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