Krise

Wenn Geld und Gas gleichzeitig zu knappen Gütern werden

Die Abhängigkeit von Putins Gas ist für Deutschland groß. Die Bundesrepublik versucht, das Energie- und Kostenruder herumzureißen.
Seit Ende Juli fließt wieder russisches Gas durch die Pipeline Nord Stream 1
Foto: dpa | Seit Ende Juli fließt wieder russisches Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 – allerdings nur soviel, wie Russlands Diktator Wladimir Putin es gerade will.

Zehn Tage voller Hoffen und Bangen liegen hinter Deutschland. Inzwischen ist die jährliche Wartung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 abgeschlossen. Zwar gedrosselt, wird russisches Gas wieder geliefert. Der Bedarf ist groß: Insgesamt 999 Terawattstunden Erdgas wurden in Deutschland im Jahr 2021 verbraucht. Eine Terawattstunde entspricht einer Billion Wattstunden oder einer Milliarde Kilowattstunden. Etwa 31 Prozent des Erdgasverbrauchs entfielen auf Haushalte, etwa 37 Prozent auf die Industrie.

Jede zweite Wohnung wird mit Erdgas beheizt

Jede zweite Wohnung (49,5 Prozent) wird mit Erdgas beheizt. Neubauten dagegen nutzen hauptsächlich Wärmepumpen (50,6 Prozent), der Anteil an Gasheizungen ist 2021 auf 34,3 Prozent gefallen. Im Schnitt verbraucht ein Haushalt etwa 20.000 Kilowattstunden (kWh) Erdgas pro Jahr. Der individuelle Verbrauch ist abhängig von der Anzahl der Personen, der Größe der Wohnfläche, dem Alter des Wohngebäudes und dem eigenen Verhalten. Wird Erdgas auch zur Warmwasserbereitung verwendet, kommt es entscheidend auf die Haushaltsgröße an.

Einen großen Einfluss auf den Gasverbrauch hat das Baujahr der Immobilie. Die Unterschiede zwischen Alt- und Neubauten sind enorm, wie eine Tabelle des Energieunternehmens EON Deutschland Energie GmbH aufzeigt. Danach liegt der durchschnittliche Gasverbrauch in einer vor 1977 gebauten 85 Quadratmeter großen Wohnung bei 21.000 kWh, ab dem Baujahr 2002 halbiert er sich auf 10.400 kWh, und ein Neubau kommt nur noch auf 1.660 bis 6.300 kWh. Ein Einfamilienhaus mit 140 Quadratmetern Wohnfläche benötigt als Altbau 28.000 kWh, als zwanzig Jahre altes Gebäude 14.000 kWh und als Neubau wiederum 2.200 bis 8.700 kWh. Das individuelle Heizverhalten wirkt sich ebenfalls deutlich aus. Wenn die Raumtemperatur um ein Grad erhöht wird, steigt der Gasverbrauch um sechs Prozent. Auch die tägliche warme Mahlzeit schlägt zu Buche: Kocht ein vierköpfiger Haushalt täglich eine Stunde mit dem Gasherd und nutzt regelmäßig den Backofen, liegt der Jahresverbrauch etwa bei 800 bis 1.000 kWh Erdgas.

Explodierende Kosten

Bereits seit Herbst 2021 steigen die Gaspreise stark an: Die wirtschaftliche Erholung nach dem Ende der Corona-Einschränkungen sowie die im Vergleich zu den Vorjahren deutlich leereren Gasspeicher in Europa erhöhten die Nachfrage. Zudem musste durch eine Windflaute in der Nordsee mehr Gas als üblich für die Stromerzeugung verwendet werden, da die Windkraftanlagen weniger Strom produzierten. Das Aus für Nord Stream 2 und die Drosselung der russischen Lieferungen über Nord Stream 1 auf etwa 40 Prozent kamen hinzu. Zusätzlich wurde zum Jahresbeginn die CO2-Abgabe von 25 Euro auf 30 Euro pro Tonne erhöht. Für die Verbraucher ist dies deutlich zu spüren: Wie Berechnungen der Verbraucherzentrale auf Basis der Strom- und Gaspreisanalysen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (BDEW) zeigen, explodieren die durchschnittlichen jährlichen Energiekosten für einen Beispielhaushalt mit drei Personen. Noch 2012 lagen die Kosten für einen Stromverbrauch von 3.500 kWh und einen Gasverbrauch von 20.000 kWh bei 2.260 Euro - im Jahr 2021 waren es mit 2.538 Euro nur wenig mehr, im Januar 2022 aber kletterten die Gesamtkosten auf 3.709 Euro. Allein für das Erdgas waren 2.224 Euro zu berappen, fast soviel wie die Gesamtkosten vor zehn Jahren. Besonders der Anteil für Beschaffung und Vertrieb ist stark angestiegen: von 8,16 im Jahr 2012 auf 13,65 Cent pro Kilowattstunde.

Abhängigkeit von russischer Energie

Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine und der deutschen Abhängigkeit von russischer Energie ist mit weiteren Preissteigerungen zu rechnen: Vor dem Krieg kam mehr als ein Drittel des deutschen Erdöls aus Russland, bei Gas und Kohle waren es sogar mehr als die Hälfte. Inzwischen stammen noch acht Prozent der Kohle und zwölf Prozent des Erdöls aus Russland. Der russische Anteil beim Erdgas wurde nach Angaben von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bis Mitte April immerhin auf 35 Prozent gesenkt. Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) wappnet sich für eine mögliche Zuspitzung der Lage am Gasmarkt mit der Senkung der Gasreduktion im Stromsektor durch eine zeitlich befristete Nutzung von Kohlekraftwerken, einem Gasauktionsmodell zur Reduktion von Industriegas und der Stärkung der Einspeicherung.

Lesen Sie auch:

Zusätzlich rief das BMWK im Juni die Alarmstufe des Notfallplans Gas aus. Der Notfallplan Gas kennt drei Stufen: die Frühwarnstufe, die Alarmstufe und die Notfallstufe. Während sich in den ersten beiden Stufen die Marktakteure um eine Beherrschung der Lage bemühen, greift in der Notfallstufe der Staat ein. Hier liegt eine „außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere erhebliche Verschlechterung der Versorgungslage“ vor, und die Bundesnetzagentur übernimmt hoheitlich in enger Abstimmung mit den Netzbetreibern Verteilung und Zuteilung der knappen Gasmengen. In allen Stufen unterliegen unter anderem Haushaltskunden einem besonderen Schutz, was Bundeswirtschaftsminister Habeck unlängst in Frage stellte. Daraufhin mahnte Ramona Pop, Vorständin des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), die Bundesregierung müsse jetzt für den Ernstfall Vorsorge treffen und zwar nicht nur für strauchelnde Energieunternehmen, sondern vor allem für die Menschen. „Insbesondere Menschen mit geringem, aber zunehmend auch mit mittleren Einkommen werden bei explodierenden Preisen ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können“, sagte sie. Von zentraler Bedeutung sei ein an die Preisentwicklung gekoppelter höherer Heizkostenzuschuss.

Deutschland wappnet sich gegen den Gas-Ausfall

Ebenso fordert die Verbraucherzentrale ein Moratorium für Strom-, Gas- und Fernwärmesperren sowie eine Kostenübernahme bei Zahlungsunfähigkeit. Denn im schlimmsten Fall droht säumigen Verbrauchern die Sperrung durch ihren Energieversorger. Voraussetzung dafür sind nach den weitgehend gleichlautenden §§ 19 Strom- bzw. Gas-Grundversorgungsverordnung ein Verzug mit mindestens zwei offenen Abschlägen in Höhe von mindestens 100 Euro, eine Mahnung mit Sperrandrohung sowie eine fristgerechte Sperrankündigung. Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke wies darauf hin, „dass Energieunternehmen ihre Kunden drei Monate im Voraus darüber informieren müssen, falls sie Energielieferungen einstellen wollen". Die Bundesnetzagentur könne Energieunternehmen trotz Preisgarantie die Weitergabe gestiegener Preise an die Verbraucher erlauben. Auch sie sprach sich für ein Moratorium für Strom- und Gassperren aus.

Ein Sprecher des Bundesumweltministeriums (BMUV) sagte auf „Tagespost“-Anfrage, das BMUV und das BMWK prüften derzeit gemeinsam alle Möglichkeiten, um die Verbraucher über den kommenden Winter vor den Härten steigender Energiepreise zu schützen. „Dazu gehören gezielte Hilfen, wo diese gebraucht werden und auch Maßnahmen, um Strom- und Gassperren zu verhindern.“

Aktuell kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz zur Entlastung der Bürger für Anfang 2023 eine Wohngeldreform und das von Bundesarbeitsminister Heil geplante Bürgergeld an. Das milliardenschwere Rettungspaket für den Energiekonzern Uniper könne aber über eine Umlage an alle Gaskunden zu Mehrkosten von 200 bis 300 Euro pro Jahr für eine vierköpfige Familie führen.

Einschränkungen per Gesetz

Im Krisenfall gestattet das Energiesicherheitsgesetz (EnSiG) weitgehende Einschränkungen für Industrie und Verbraucher: § 1 EnSiG ermächtigt die Exekutive, im Falle einer unmittelbaren Gefährdung oder Störung der Energieversorgung im Wege von zeitlich befristeten Rechtsverordnungen notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um die Deckung des lebenswichtigen Bedarfs an Energie sicherzustellen. Dazu zählen zum Beispiel Regeln über die Produktion, Transport oder Verteilung von Energieträgern. Die Neuregelung des § 30 EnSiG ermöglicht bereits in der Frühwarnstufe des Notfallplans Gas Rechtsverordnungen mit präventiven Maßnahmen zur Energieeinsparung. „Welche Maßnahmen das konkret sind, darüber spekulieren wir nicht. Das würde dann in einem solchen Engpassfall festgestellt. Wir tun aber alles, um eine solche Situation zu vermeiden“, ließ eine Sprecherin des BMWK gegenüber dieser Zeitung verlauten.

Momentan bemühen sich Bund, Länder, Städte und Gemeinden um Energieeinsparungen im öffentlichen Bereich, fordern aber auch die Verbraucher auf, ihren Teil beizutragen. So erhöht das BMWK die Solltemperatur für die Raumkühlung auf 26 Grad, was laut einer Sprecherin des Ministeriums 40 Prozent der Kälteenergie einsparen könne - circa 50.000 kWh/a. Der kürzlich vorgestellte Gas-Notfallplan der EU sieht unter anderem vor, dass öffentliche Gebäude, Büros und kommerzielle Gebäude ab Herbst bis maximal 19 Grad beheizt werden sollen. Bis auf weiteres lautet also das Gebot der Stunde sowohl für Industrie, Handel, Gewerbe, öffentliche Hand als auch Privathaushalte Energie einzusparen, wo immer es möglich ist – damit das Gas nicht im kommenden Frühjahr physisch zu knapp wird.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Cornelia Huber Krieg Olaf Scholz Ramona Pop Robert Habeck Ukraine Wladimir Wladimirowitsch Putin

Weitere Artikel

Eine Rückkehr zu den Gaspreisen von 2019 wird es nicht geben: Wie sieht der Handlungsspielraum der Verbraucher aus?
20.03.2023, 15 Uhr
Marco Fetke
Die westlichen Sanktionen sind hart und verursachen auch hierzulande Kollateralschäden.
11.03.2022, 17 Uhr
Stefan Ahrens

Kirche

Wer Untersuchungen behindert, macht sich nun kirchenrechtlich strafbar. Ebenso legt Franziskus Verfahrensverläufe und Zuständigkeiten fest.
26.03.2023, 14 Uhr
Meldung
Indem es für sie Partei ergreift, fällt das Moskauer Patriarchat der „Ukrainisch-Orthodoxen Kirche“ in den Rücken.
25.03.2023, 11 Uhr
Stephan Baier
Die Debatte um Johannes Paul II. hat für einige Überraschungen gesorgt. Wie geht es nun weiter?
24.03.2023, 11 Uhr
Stefan Meetschen