Medizinische Lösungen und die optimale Ausstattung von Krankenhäusern stehen im besonderen Fokus der Corona-Krise. Zu Recht! Etwas im Schatten davon tun sich zahlreiche sozialethische Fragen auf mit gravierenden Folgen für die Zeit danach. Vier davon werden hier nun aufgegriffen und ausgeführt.
1. Die sozialanthropologische Herausforderung
Ein utilitaristisches, wenn nicht gar sozialdarwinistisches Menschenbild steht Pate für manche Strategievorschläge zum Umgang mit der Pandemie: Herdenimmunität als Lösung würde hunderttausende Leben gerade der Alten und Schwachen in Kauf nehmen (ursprüngliche Idee von Boris Johnson). Dan Patrick, Vize-Gouverneur von Texas, fordert ebenso das Ende aller Ausgangsbeschränkungen. Um der Jugend die wirtschaftliche Zukunft nicht zu verbauen, müssten wir eben jetzt das Leben von alten und schwachen Menschen opfern. Anders in China: Totale staatliche Überwachung als Reaktion folgt dem kollektivistischen Menschenbild. Kritik an der Partei ist strikt verboten.
Und die Ursache des Virus wird nun anderen in die Schuhe geschoben. Das Bild vom makellosen roten Regime fordert die totale Parteiunterwerfung und eine Fake-Propaganda. Hier ist nur das Individuum etwas wert, das sich kritiklos anpasst. Im Ergebnis relativieren Utilitarismus und Kollektivismus die Würde des Menschen.
"Sozialpolitik darf nicht allein auf austauschbare Postulate setzen."
Das Problem: Und was passiert bei uns? Hier soll die unantastbare Würde nicht geopfert werden.
Wir verzögern die Ausbreitung und setzen auf einen wirksamen Impfstoff, nehmen Zwangsmaßnahmen und wirtschaftliche Einbußen in Kauf, ohne in Rationierungsfragen das Bedürftigkeitsprinzip in der Gesundheitsversorgung zu opfern. Jedenfalls nominell. Doch in welchem Menschenbild ist diese Strategie eigentlich begründet?
Lösungsversuch: Sozialpolitik darf nicht allein auf austauschbare Postulate setzen. Die Identifizierung eines eindeutigen Würdebegriffs als Orientierungskompass ist dringend erforderlich, um dessen Unantastbarkeit vor dem weiteren Zugriff relativistischer Menschenbilder zu schützen.
2. Die sozialökonomische Herausforderung
Zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen werden zig-Milliarden-Pakete geschnürt, Länder wie Deutschland können das vielleicht verkraften, aber nicht Italien oder Griechenland. Die vermeintliche Lösung: Schuldenbremsen werden aufgehoben, der Stabilitätspakt zur Makulatur und die Europäische Zentralbank (EZB) spült mit schwindelerregenden Anleihekäufen noch mehr Geld auf den Markt.
Das Problem: Die EZB hat in den letzten Jahren schon ihr Pulver verschossen. Null-Zinsen haben den Staaten gefallen, aber nicht den Sparern.
Kein Wunder, dass jetzt viele vor dem Ruin stehen, die auf Konsum statt auf langfristige Solidität setzten. Man muss kein Prophet sein: Schon werden die Rufe wieder lauter nach Schuldenunion und dem Staat. Der Euro wird dabei zu einem etatistischen Druckmittel. Solche Geld- und Wirtschaftspolitik ist selbst eine Ursache des ökonomischen Übels.
Lösungsversuch: Die Konsequenz der kommenden Rezession darf nicht die Preisgabe einer soliden Währung, die Vergemeinschaftung von Schulden und mehr Staat sein. Die EZB muss mit gutem Beispiel vorangehen. Es braucht einen Kurswechsel der Geldpolitik mit Signalwirkung! Anreize zum Sparen sollte sie setzen, damit in Zukunft mögliche Krisen auf wirtschaftliche Substanz treffen, die das finanzielle Überleben von Familien, kleinen und mittelständischen Unternehmen leichter macht.
3. Die tugendethische Herausforderung
Zum einen erleb(t)en wir einen fast animalischen Egoismus: Corona-Partys, Anhusten und Anspucken alter Menschen, Tumulte im Supermarkt, Kriminelle, die sich die Angst der Menschen zunutze machen und einen Präsident Trump, der die künftigen Heilmittel allein für die USA sichern will. Andererseits gibt es bei uns auch Initiativen des sozialen Zusammenhalts: Solidaritätsbekundungen mit Ärzten und Pflegekräften, Einkaufshilfen für alte Menschen, Schlangen von Blutspendern oder gezielte Einkäufe bei existenziell gefährdeten Geschäften.
Das Problem: Alles schlecht oder alles gut? Weder noch! Die extremen Unterschiede der menschlichen Verhaltensweisen zwischen Egoismus und Zusammenhalt lassen nicht auf eine herrschende Moral der Menschen schließen. Vielmehr scheint Adam Smith Recht zu haben mit seiner Vorstellung, dass im Menschen beides vorhanden sei: Egoismus und Altruismus.
Der Mensch ist eben wie er ist, mal bricht sich die eine, mal die andere Seite Bahn. Zwang zur Pflichterfüllung ist ein wesentliches Instrument der nun greifenden Maßnahmen in Deutschland. Mit Pflicht allein ließen sich auch Teufel zähmen, wie schon Immanuel Kant wusste.
Lösungsversuch: Wir sollten als Lehre aus der Krise auf eine andere Moral setzen, die auf einem affektiven Miteinander der Menschen fußt. Das ist auch die Idee der Sozialen Marktwirtschaft.
Hierzu braucht es in unserer Gesellschaft dringend eine Tugendbildung. MINT-Kenntnisse allein sind zu wenig. Für solche Tugenden können klassische wie religiöse Vorbilder Pate stehen, die charakterstarke Persönlichkeiten fördern.
4. Die religionssoziologische Herausforderung
In Krisenzeiten haben Religionen eigentlich Konjunktur. Der säkulare Sozialphilosoph Charles Taylor traut gerade dem Christentum im westlichen Kontext zu, wesentliche Sehnsüchte zu bedienen: so etwa Antworten auf Sinnfragen, Trost, einen Resonanzraum der Transzendenz, Hoffnung in scheinbarer Hoffnungslosigkeit. So stabilisiere die Religion die Gesellschaft.
Das Problem: Davon ist aber wenig zu spüren. Die Gottesdienste fallen aus. An Kar- und Ostertagen bleiben die Kirchen leer. Hoffnung und Transzendenz suchenden Menschen fehlen diese Sehnsuchtsorte. Auch unter Christen ist der wirkliche Glaube an einen personalen Gott dramatisch abgesunken. All das könnte religiöse Enttäuschung zur Folge haben.
Lösungsversuch: Die Kirchen und ihre Gläubigen sollten jetzt das Bedürfnis der Menschen nach Transzendenz ernst nehmen. Sie sollten wieder ausdrücklich Gott und seine Bedeutung für Sinn, Trost, Vergebung, Hoffnung und Leben in den Mittelpunkt von Verkündigung, Theologie und praktischem Handeln stellen. Das ist eine Konsequenz für die Zukunft.
Und jetzt schon sollten die noch offenen Kirchen für den stillen Beter zu Orten der Gottesbegegnung ausgestaltet werden, mit Bildern, Texten, Musik oder anderem. Christen könnten sich jetzt in der Fasten- und Osterzeit bekennende Texte, Bilder oder Musikstücke suchen, sie selbst erstellen oder verfassen und sie miteinander teilen. So tun sich neue Sehnsuchtsräume auf, die sich im Gottesbekenntnis und solchem Gebet vereinen.
Der Autor ist katholischer Priester. Er lehrt als Professor Wirtschafts- und Sozialethik und ist Leiter des Ethikinstituts an der Wilhelm-Löhe-Hochschule in Fürth.
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