Kennen Sie das: Ins Auto steigen, losfahren und plötzlich greift der Spurhalteassistent korrigierend ein? Der Abstandsregler drosselt das Tempo und der Einparkhelfer manövriert das Auto zentimetergenau in die Lücke. KI steuert unsere Geräte so kompetent, dass wir ihr zunehmend vertrauen. Sie steigert die Effizienz unserer Produkte, macht komplexe Vorgänge einfacher und nimmt uns lästige Routineaufgaben ab.
Besonders deutlich wird diese Entwicklung beim autonomen Fahren. Die fünf Stufen, von der analogen Fahrweise bis zum vollautonomen Auto, haben sich als Modell für viele Anwendungsbereiche von KI etabliert. Stufe null bedeutet: Der Mensch fährt komplett selbstständig, mit voller Verantwortung. Bei Stufe eins bis vier helfen Assistenzsysteme mit, doch der Fahrer bleibt in der Verantwortung und benötigt abgestufte Bedienkompetenzen. Erst bei Stufe fünf, dem vollautonomen Fahrzeug, bedarf der Mensch keiner Fahrkenntnisse mehr – er steigt ein, und das Auto fährt los.
Denken wir an die Vorbereitungszeit, die Menschen investieren, um ein Auto zu beherrschen: Fahrschule, Theorie, Praxis, Prüfungsangst, Führerschein. Bräuchten wir dementsprechend auch einen „KI-Führerschein“? Eher nicht. Denn KI holt uns genau dort ab, wo wir mit unseren Kompetenzen stehen. Sie passt sich an, lernt mit, unterstützt beim Recherchieren, Organisieren und Informieren.
Werfen wir unseren Erfahrungsschatz nicht über Bord
Dennoch sollten wir KI nur mit Vorbehalt vertrauen. Nehmen wir ein alltägliches Beispiel: Sie kommen in eine fremde Stadt und suchen ein Restaurant. Die KI empfiehlt Ihnen einen Geheimtipp – und tatsächlich, Sie sitzen in einem tollen Lokal, weil Sie der digitalen Empfehlung vertraut haben. Doch blindes Vertrauen wäre problematisch. Wenn das von der KI vorgeschlagene Restaurant seltsam leer ist und Sie ein komisches Gefühl beschleicht, sollten Sie genau hinhören – auf Ihre Intuition. Dann gehen Sie besser zum nächstbestbewerteten Restaurant, um dort mit Ihrem gesunden Menschenverstand zu prüfen, ob alles Ihren Erwartungen entspricht. Diese analoge Urteilsfähigkeit bleibt unverzichtbar. Sie bewahrt uns davor, mit dem Navi in der Sackgasse zu landen oder irreführenden KI-Ratschlägen zu folgen. Erstrebenswert ist ein Zusammenspiel von analogen und digitalen Kompetenzen – eine Balance, die uns handlungsfähig macht, auch wenn digitale Systeme ausfallen. Denn was passiert, wenn ein Hackerangriff die Stromversorgung lahmlegt und digitale Infrastrukturen zusammenbrechen? Dann benötigen wir analoge Fähigkeiten, um auf der Stufe null, ohne KI, für alle Lebenslagen gewappnet zu sein.
Werfen wir deshalb unseren Erfahrungsschatz nicht über Bord. Gleichzeitig sollten wir uns von KI unterstützen lassen: als mächtiges Werkzeug, das uns effizienter macht. Was wir brauchen, ist eine technologische Urteilskraft: das Vermögen zu erkennen, wann KI hilfreich ist und wann wir besser auf unsere analogen Fähigkeiten vertrauen. Denn letztlich obliegt uns Menschen beides: die Entscheidung über den Einsatz von KI und die Verantwortung für die Konsequenzen.
Der Autor lehrt Philosophie an der Universität Siegen, der WHU Vallendar und der Hochschule für Philosophie München.
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