Wer hätte sich das in der unmittelbaren Nachkriegsordnung vorstellen können? Dass ausgerechnet von Deutschland aus eine Idee in die Welt ausstrahlen sollte, die nachhaltig Einfluss auf die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen der Staaten der westlichen Wertegemeinschaft ausüben wird? Die Rede ist von der Sozialen Marktwirtschaft. Praktisch von Ludwig Erhard als Bundeswirtschaftsminister als Konzept umgesetzt, aber auf einer theoretischen Basis aufbauend, deren geistige Wurzeln tiefer liegen. Schon ein flüchtiger Blick auf die Denker in Erhards Umfeld zeigt, diese Intellektuellen waren durch das christliche Menschenbild geprägt. Dass Soziale Marktwirtschaft mit „großem S“ geschrieben wird, wie Alfred Müller-Armack stets betont hat, hängt auch damit zusammen. Und nicht nur das, gerade aus der Perspektive der katholischen Soziallehre tat sich hier ein ganz neuer Freiraum auf. Wie sehr der genutzt wurde, zeigt besonders prägnant das Beispiel von Joseph Höffner. Der spätere Kölner Erzbischof und Kardinal war als Professor nicht nur Theoretiker, er wurde auch als Politik-Berater aktiv. Wenn der sogenannte „Rheinische Kapitalismus“ zu dem zentralen Merkmal der „Bonner Republik“ geworden ist, dann ist das auch auf diesen katholischen Einfluss zurückzuführen. Klar muss natürlich sein, dass das, was nun unter dem Label „Soziale Marktwirtschaft“ firmierte, keine Eins-zu Eins-Umsetzung der Soziallehre war. Doch hier wurden zum ersten Mal politisch Gedanken weitergeführt, die der Jesuiten-Pater Heinrich Pesch schon im 19. Jahrhundert unter der Überschrift „Solidarismus“ formuliert hatte. Weder Manchester-Kapitalismus, also keine reine Marktwirtschaft, noch Sozialismus. Sondern ein Mittelweg zwischen beiden Extrempolen, die aus letztlich ideologischen Menschenbildern resultieren. Stattdessen eine Besinnung auf eine realistische Anthropologie.
Wohlstand als Gradmesser
Sich diese Zusammenhänge vor Augen zu führen, ist gerade in der Gegenwart von Bedeutung. Denn diese anthropologische Dimension ist lange vernachlässigt, wenn nicht sogar vergessen worden.
Gewiss ist materieller Wohlstand ein ganz natürlicher Gradmesser, um die Qualität einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu bewerten. Aber es geht eben nicht nur darum. Genauso entscheidend ist, ob der Mensch hier die gesellschaftlichen Strukturen findet, die seinem Wesen entsprechen. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ab 1990 stellte sich der Eindruck ein, das westliche Modell, die Soziale Marktwirtschaft (wenn auch in unterschiedlichen Varianten) inklusive, sei der endgültige Sieger im Systemwettstreit. Und wie das so ist, wenn man sich auf dem Siegertreppchen wähnt, die Kräfteanspannung lässt nach, Entspannung ist angesagt. Das hieß mit Blick auf die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung: Denkfaulheit setzte ein. Man kann sich auch zu Tode siegen.
Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft
Nun leben wir, nicht erst seit der sogenannten „Zeitenwende“, in einer neuen Epoche. Und auch die Systemkonkurrenz ist wieder da. China fordert die westliche Welt, damit auch Deutschland, heraus. Wirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich. Die Chinesen orientieren sich dabei an einem Menschenbild, das dem christlichen widerspricht. Diese Konfrontation zwingt dazu, sich wieder stärker mit den geistigen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft auseinanderzusetzen. Von katholischer Seite ist hier, anknüpfend an die Vordenker aus der Nachkriegszeit, viel zu tun.
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