Wie entsteht der Sozialstaat in der katholischen Tradition? Ja, zuerst durch den hl. Augustinus und sein Nachdenken über den Brudermord von Kain an Abel, am Anfang der Menschheitsgeschichte, nach der selbst gemachten Entfernung aus dem Paradies der Liebe Gottes. Alles in der katholischen Theologie beginnt mit Augustinus, der die Bibel liest als Geschichte der Entfernung des Menschen von Gott und voneinander, als Geschichte der im Erbe des Menschen liegenden Sünde der Lieblosigkeit, als Geschichte des mühsamen Versuchs der Eindämmung des Bösen durch die Gesetze. Alles beginnt mit der eisern feststehenden Frage Gottes: „Wo ist Dein Bruder?“ und der trotzigen Antwort Kains „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ Jetzt, in der schrankenlosen Anarchie gewalttätiger Willkür wird der Staat als Schutzraum der Grundrechte auf Leben, Eigentum, Wahrheit und Ehe mit Familie nötig. Gerechtigkeit wird mit staatlichem Gewaltmonopol unerbittlich durchgesetzt, Recht wird erzwungen. Was nicht erzwungen werden kann (und darf) ist das, was weit über Recht und Gerechtigkeit hinausgeht: Liebe.
Es fehlt die Liebe
Das kommt dann, 900 Jahre nach dem hl. Augustinus, dem hl. Bonaventura in den Sinn, inspiriert durch das Beispiel seines Ordensgründers, des hl. Franz von Assisi: Was fehlt noch, wenn der Staat, seine Gesetze und sein Gewaltmonopol funktionieren? Es fehlt die Liebe! Bonaventura denkt viel über den Sinn der Himmelfahrt Christi nach. Er ist besonders bewegt von zwei Sätzen, die wir im Evangelium vom Dienstag vor Christi Himmelfahrt und in der ersten Lesung an Christi Himmelfahrt hören: „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe.“ (Joh 16, 7) und „Dieser Jesus, der von euch fort in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen…“ (Apg 1,11) Warum ist es gut, dass der Herr zum Vater geht und uns den Hl. Geist als Beistand lässt? Damit wir erwachsen werden, damit wir vom Hl. Geist die Gesetze der Liebe über die Gesetze des Staates hinaus beigebracht bekommen, damit wir in der Schule unseres Lebens die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen erlernen, damit wir Freiheit zur Entscheidung zwischen Gott und unserem Eigennutz haben. So entsteht der frühe Sozialstaat durch die frühen franziskanischen Predigermönche, zum Beispiel Berthold von Regensburg, der uns das wunderbare Lied hinterlässt „Nun bitten wir den Hl. Geist…“.
Vorbereiten auf die Wiederkunft des Herrn
Und genauso wichtig: Der Herr wird wiederkommen, bis dahin müssen wir die Welt so auf seine Wiederkunft vorbereiten, dass er sich freut bei seiner Wiederkunft. Nicht die Hände in den Schoß, sondern an den Pflug legen, ist das Gebot der Stunde, nicht abwarten und den Tag des Herrn erwarten, sondern in tätiger Nächstenliebe. Auch so entsteht der frühe franziskanisch inspirierte Sozialstaat: Nach Christi Himmelfahrt liegt das weite Feld der Bewährung im Alltag vor uns. Jetzt gilt es, nicht zum Himmel zu starren in stiller Verzückung, sondern zu arbeiten an der liebenden Verwandlung einer besseren, ja heiligen Welt. Damit der Heiland sich freut, wenn er wiederkommt und alles anschaut und uns heimholt in den Himmel, der von uns auf der Erde vorbereitet wurde.
Der Autor ist Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach. Die Kolumne erscheint in Kooperation mit der KSZ.
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