Wirtschaft

Kolumne: Diskursiver Seiltanz als demokratische Passion

„Nöte und Sorgen der Menschen“, auf die man hören muss. Von Ana Honnacker
Dr. phil. Ana Honnacker
Foto: privat | Dr. phil. Ana Honnacker

Die Frage, ob „mit Rechten“ zu reden sei, ist mit dem erstarkenden Rechtspopulismus in vielen westlichen Demokratien wieder dringlich geworden. Und das in zweifachem Sinne. Ob es erstens angebracht und angeraten, vielleicht gar unter Hinweis auf demokratische Spielregeln verpflichtend sei. Und zweitens, inwiefern ein solches Reden irgendwohin führe, also ob überhaupt ein Gespräch im echten Sinne, ein offener, transformativ angelegter Austausch möglich sei.

Beide Aspekte, der demokratietheoretische und der kommunikationstheoretische, sind natürlich ineinander verschränkt, und beide verweisen auf die Verletzlichkeit des demokratischen Diskurses. Zum einen muss er sich offen halten für einen größtmöglichen Pluralismus an Überzeugungen und Positionen. Verweigert er bestimmten Stimmen den Zutritt und das Gehör zu früh, droht er seine eigenen Prinzipien zu untergraben. Lässt er zu, dass antidemokratische Gesinnungen hegemonial werden, ist er ebenso gefährdet. Zum anderen ist der demokratische Diskurs auf diskursfähige und -bereite Bürger*innen (eingeschlossen solche, die in der Politik aktiv sind) angewiesen. Diese sind aber weder eine von selbst nachwachsende Ressource, noch kommen sie je in ihrer idealtypischen Reinform vor.

Letzteres verweist zudem auf die Schwäche rein deliberativ angelegter Modelle von Demokratie, die ausschließlich auf rational-argumentative Verfahren setzen. Deren Einfluss auf unsere Vorstellungen darüber, wie der öffentliche politische Diskurs abläuft, zeigt sich auch darin, dass erst mit dem Auftreten des „Wutbürgers“ die Einsicht reifte, dass man die Rolle von Emotionen für die Bildung von politischen Meinungen nicht ausblenden darf. Seitdem sind die „Nöte und Sorgen der Menschen“, auf die man hören müsse, in aller Munde. Das ist einerseits (und fast trivialerweise) richtig und wichtig. Eine Politik aber, die sich in einer Art Übersprungsreaktion nach reinen Befindlichkeiten richtet, wird wiederum populistisch und damit antidemokratisch.

Meinungsfreiheit und Meinungspluralismus gehören zu den Grundfesten der Demokratie. Das schließt unbequeme und vom Mainstream abweichende, bis hin zu uninformierten und irrationalen Positionen mit ein. Es gilt, diese auszuhalten, auch wenn man an ihnen leidet. In diesem Sinne brauchen wir eine Passion für die Demokratie. Wo aber verläuft die Linie zwischen politischen Gegnern, also jenen, die im Rahmen der demokratischen Ordnung andere Ziele als unsere eigenen verfolgen, und politischen Feinden, das heißt denen, die auf die Abschaffung eben jener Ordnung zielen? In welchen Fällen müssen wir alles daran setzen, „zivilisiert streiten“ zu lernen, also eine „Ethik der politischen Gegnerschaft“ (M. Frick) auszubilden, und in welchen gilt es, entschieden Einhalt zu gebieten?

Die demokratische Verfasstheit offenbart sich hier in ihrer ganzen Prekarität. Sie gleicht einem Seiltanz, bei dem jeder Fehltritt zugleich ein fatales öffentliches Signal sendet und es darüber hinaus manchmal so scheint, als sei jedweder Schritt einer, der daneben geht. Man denke an die Entscheidung darüber, ob auf dem diesjährigen Katholikentag in Münster der Vertreter der AfD zu einer Podiumsdiskussion der religionspolitischen Sprecher aller im Bundestag vertretenen Parteien einzuladen sei. (Volker Münz wurde eingeladen, trotz massiver Kritik vorab auch nicht wieder ausgeladen – in der Bewertung des Auftritts blieb die Berichterstattung, immerhin, uneindeutig.) Die Hoffnung, die Vertreter*innen extremistischer Positionen würden sich schon mäßigen, wenn sie an der demokratischen Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen teilnehmen, sei es in Talkrunden oder auch in den Parlamenten, hat sich als leer erwiesen. Im Gegenteil haben sich die Grenzen des Sagbaren deutlich in Richtung Menschenfeindlichkeit verschoben.

Also ja: Wir müssen reden. Und zwar über die zunehmende Dominanz von Hass, Ressentiments, Angst und über deren Ursprüngen. Wir müssen uns auseinandersetzen mit der Verletzlichkeit unserer Demokratie, die wir nicht umgehen können, weil sie zugleich der Garant unserer Freiheit ist.

Die Autorin ist wissenschaftliche Assistentin am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.

Die Kolumne erscheint in Kooperation mit der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach.

 

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