Die Überschuldung der privaten Haushalte in Deutschland hat im vergangenen Jahr stark zugenommen – und das noch ganz ohne den Ukrainekrieg als Anlass, dessen ökonomische Auswirkungen erst 2022 spürbar werden. So haben sich die Privatpleiten im Jahre 2021 gegenüber dem Vorjahr nahezu verdoppelt: Nachdem die Zahlen zehn Jahre lang gesunken sind, haben jetzt 109 031 Schuldner den Weg des sogenannten Verbraucherinsolvenzverfahrens, gemeinhin auch Privatinsolvenz genannt, eingeschlagen. Das ist ein gerichtliches Verfahren zur Schuldenregulierung, bei dem nach einer Vereinbarung mit den Gläubigern und einer sogenannten Wohlverhaltensperiode die dann noch vorhandenen Schulden gelöscht werden. Nicht alle Personen, die eine Privatinsolvenz anmelden, sind zwingend hoch verschuldet. Ein Großteil von ihnen hat nach den Ergebnissen des von der Wirtschaftsauskunftei CRIF jüngst veröffentlichten Schuldenbarometers 2021 in der Gesamtsumme Schulden von unter 10 000 Euro. Die mittlere Schuldenhöhe liegt derzeit bei knapp unter 19 000 Euro.
Bundesweit gab es im Jahr 2021 ausweislich des Schuldenbarometers 131 Privatinsolvenzen berechnet auf 100 000 Einwohner. Dabei sind die nördlichen Bundesländer stärker betroffen als der Süden Deutschlands. Bremen führt die Statistik mit 247 Privatinsolvenzen je 100 000 Einwohnern an. Es folgen Niedersachsen und Hamburg. Die wenigsten Privatinsolvenzen verzeichneten Bayern (86 Fälle je 100 000 Einwohner), Baden-Württemberg (99) und Thüringen (109). Zudem sind Männer mit gut 60 Prozent stärker von einer Privatinsolvenz betroffen als Frauen.
Gesetzesänderung sorgt für erhöhte Insolvenzanträge
Im Gespräch mit der „Tagespost“ erläutert der Vorsitzende des Verbandes der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID), Christoph Niering, den auf den ersten Blick dramatischen Anstieg der Zahlen: „Die massive Erhöhung liegt zum einen an einer Gesetzesänderung, auf die viele Betroffene gewartet hatten. Seit dem 31.12.2020 gilt sie für Privatleute und Soloselbstständige.“ Darüber hinaus habe der Gesetzgeber die Wohlverhaltensperiode von sechs Jahren auf drei Jahre verkürzt. Das mache es für viele Schuldner leichter, sich auf die Durchführung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens einzulassen. „Neu ist auch, dass bei der Schuldenregulierung keine Mindestquote zur Befriedigung des Gläubigers mehr erreicht werden muss. Das war für viele ein Anlass, jetzt das Verfahren zu starten“, ergänzt Niering.
Bei den Verbraucherinsolvenzen habe, so der Rechtsanwalt, die Corona-Pandemie kaum Auswirkungen gehabt. Das hänge auch damit zusammen, dass einer der Hauptgründe für Privatinsolvenzen die Arbeitslosigkeit sei. Da es aber pandemiebedingt nicht zu einer immensen Steigerung der Arbeitslosenzahlen gekommen sei, habe sich das nicht dramatisch auf die Insolvenzen ausgewirkt. Viele Soloselbstständige und Honorarkräfte aus unterschiedlichsten Branchen haben in der Pandemie allerdings von einem Tag auf den anderen nahezu ihr komplettes Einkommen verloren. In der Folge gingen die oft ohnehin geringen Einkünfte weiter zurück und das Ersparte war schnell aufgezehrt – Kredite, Ratenzahlungen oder Mieten können nicht mehr beglichen werden.
Der CRIF-Geschäftsführer Frank Schlein sieht durchaus stärkere Auswirkungen der Pandemie auf die Verbraucher, nämlich dort, wo sie durch eine veränderte Arbeitssituation, wie die Kurzarbeit, ihre finanziellen Rücklagen aufgebraucht oder versucht haben, mit privat geliehenem Geld mit ihrer finanziellen Lage zurechtzukommen. Durch den gleichzeitigen Anstieg der Miet- und Energiepreise geht er auch im Jahre 2022 von weiter hohen Privatinsolvenzzahlen aus. Niering vermutet, dass zunächst noch einige Schuldner durch die Verkürzung der Verfahrensdauer von der Möglichkeit der Insolvenz Gebrauch machen werden, die Zahlen danach aber wieder sinken sollten. Allerdings merkt er an, dass die Zahl der überschuldeten Haushalte, das sind die, die mehr Verbindlichkeiten als Vermögenswerte oder Einkommen haben, bei etwa 2 Millionen liegen, also weit über denen der Verbraucherinsolvenzen.
Nur irgednwie durckommen
„Aber viele der Schuldner werden weiter versuchen, einfach so durchzukommen“, erwartet Niering. Dabei weiß er, dass heutzutage die Privatinsolvenz im Vergleich zu früheren Zeiten ihren Schrecken mittlerweile erfreulicherweise verloren habe: „Die Privatinsolvenz ist ein gangbarer Weg für alle die Schuldner, die so hohe Verbindlichkeiten aufgebaut haben, dass sie nicht innerhalb von zwei bis drei Jahren in der Lage sind, ihre Schulden zurückzuzahlen“, erläutert der Verbandsvorsitzende. Die hoch ausgefallene Handyrechnung, die man nicht bezahlen könne, solle man allerdings nicht zum Anlass nehmen, gleich in ein Insolvenzverfahren zu gehen. Da es aber keine Untergrenze für das Eingehen eines Verbraucherinsolvenzverfahrens gebe, meldeten sich durchaus immer wieder Schuldner, die schon mit Verbindlichkeiten von 1 000 Euro ein solches Verfahren einleiten wollten. Der Jurist macht sich eher Gedanken zu dem Schuldnerkreis, der schon seit vielen Jahren nicht mehr in der Lage ist, seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen und dennoch den Weg in ein Insolvenzverfahren scheut.
„Es ist zum Teil erschütternd zu sehen, wie dort Menschen, die eine Arbeit haben, die sich um ihre Familie kümmern, verzweifelt versuchen, mit ihren Gläubigern oder Inkassobüros eine Regelung zu finden. Insbesondere dann, wenn man das als Außenstehender schnell erkennt, dass eine solche Vorgehensweise in dem Fall nicht funktionieren kann“, stellt Niering fest. Wer durch bestimmte Lebensereignisse, zum Beispiel durch längere Arbeitslosigkeit, eine Ehescheidung oder eine gescheiterte Selbstständigkeit in eine wirtschaftlich verzweifelte Lage gerate, der solle den Weg der Verbraucherinsolvenzen lieber zeitnah einschlagen, als lange zuzuwarten und seine Situation dramatisch zu verschlechtern.
Lieber zeitnah als zu spät reagieren
Derartige tiefe Einschnitte in das Leben der Menschen durch eine finanzielle Not gehen auch nicht spurlos an den Insolvenzverwaltern und ihren Mitarbeitern vorbei, beschreibt Niering. Insbesondere, weil man oft erkenne, dass eine derartige Lage eben nicht immer selbst verschuldet sei, wie es oft in der Öffentlichkeit kolportiert werde.
Andererseits erlebe man gerade im Bereich der Verbraucherinsolvenzen häufig eine große Dankbarkeit der Menschen: „Insbesondere dann, wenn die Schuldner nach dem Beginn eines solchen Verfahrens merken, dass sie sofort Auswirkungen auf ihren Alltag spüren, weil sie keine gelben Briefe mehr bekommen und keine Besuche von Inkassobüros oder Gerichtsvollziehern, spüren Sie oft eine immense Erleichterung“, beschreibt der Rechtsanwalt. Wenn man ihnen dann erkläre, dass sie jetzt nur drei Jahre lang den pfändbaren Anteil ihres Einkommens abgeben und einen Wechsel des Arbeitgebers oder der Anschrift mitteilen müssten, falle oft die Bemerkung: „Wenn ich das vorher gewusst hätte“.
Diese Haltung werde im Übrigen durch eine vor einigen Jahren im Auftrag des Bundesjustizministeriums durchgeführte Studie belegt. „Die meisten Menschen haben sich tatsächlich bereits zwei oder drei Jahre in einer Überschuldungssituation befunden und versucht, sich irgendwie dadurch zu kämpfen, ehe sie den Weg des Insolvenzverfahrens gehen“, erläutert Niering.
Hilfe suchen bei der Schuldnerberatung
Den Menschen, die sich dafür entscheiden, ein Verbraucherinsolvenzverfahren durchzuführen, rät er zum Gang zu einer Schuldnerberatung. Bedürftige Personen können beim zuständigen Amtsgericht einen Beratungshilfeschein beantragen. Wird der Antrag genehmigt, kann der Ratsuchende eine Schuldnerberatung in Anspruch nehmen und muss dafür lediglich eine Gebühr in Höhe von 15 Euro zahlen. Wenn noch finanzielle Mittel vorhanden sind, kann man sich allerdings auch an einen Anwalt wenden. Dem gerichtlichen Insolvenzverfahren muss zunächst immer der Versuch vorgeschaltet sein, eine außergerichtliche Einigung mit den Gläubigern herbeizuführen. Um das zu bewältigen, benötigt man in der Regel die Hilfe der Schuldnerberatung oder eines Fachanwalts für Insolvenzrecht. Erst wenn die außergerichtliche Einigung gescheitert ist, kann das gerichtliche Verfahren beginnen.
Inwiefern Putins Krieg in der Ukraine sowie dessen ökonomische Auswirkungen auf die Weltwirtschaft es den Verbrauchern in 2022 noch schwerer macht als im vergangenen Jahr, bleibt abzuwarten – jedoch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sowohl die finanziellen Schieflagen als auch private Insolvenzen noch stärker ansteigen werden. So oder so wird die Ampel-Regierung trotz „Stoßdämpfer“-Wirtschaftshilfen und Entlastungspaketen für die breite Bevölkerung genau diese Entwicklungen weiterhin im Auge behalten und gegebenenfalls zeitnah nachbessern müssen.
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