Keine Kriegswaffe ist so günstig und effizient wie der Hunger. Das weiß auch Wladimir Putin: Ohne Frieden wird der Hunger siegen. Doch nicht nur in Mariupol werden Menschen ausgehungert, um eine Schlacht zu gewinnen, sondern weltweit droht der Hungertod. Lebensmittel werden zur Langstreckenwaffe – denn die Ukraine ist eine Kornkammer für die ganze Welt und deckt mit Russland ein Drittel des globalen Weizenbedarfs. Und die Speicher sind trotz des Getreideraubes der russischen Invasoren noch gut gefüllt.
Doch der Krieg macht die Bestände wertlos. Weizen und Gerste werden die hungernden Menschen nicht erreichen, zumal die Nachfrage der Wohlhabenden die Weizenpreise nach oben schnellen lässt. Hungernde finden kaum Gehör; sie haben keine starke Lobby.
An Hunger gewöhnt
Die Welt hat sich an Hunger gewöhnt. Eine Milliarde Menschen leiden an chronischem Hunger und aktuellen Ernährungskrisen, vor allem südlich der Sahara und in Südasien. Jedes Jahr sterben 40 Millionen Menschen an Hunger, darunter viele Kinder unter fünf Jahren. Klimawandel und Covid haben den Welthunger verstärkt. In den letzten zwei Jahren musste die Welt damit so viel Hungertote beklagen wie der grauenhafte zweite Weltkrieg insgesamt an Opfertoten verursacht hat. Doch die Reichen verdrängen den Weltkrieg des Hungers und rechtfertigen sich mit dem Trickle-down-Effekt: Je reicher die Reichen, desto mehr Brosamen fallen vom Wohlstandstisch ab – für die am Boden Liegenden.
Ist das gerecht? Der amerikanische Sozialphilosoph John Rawls empfiehlt ein Gedankenexperiment, bei dem wir den „Schleier des Nichtwissens“ über uns legen: Darunter sind unsere Lebensumstände verborgen – wir wissen nicht, ob wir arm sind oder reich, von Krieg und Hunger bedroht, oder Wohlstandsbürger, die gerade ihre nächste Fernreise buchen. Würden wir dann einer zynischen Weltordnung zustimmen, in der noch heute hunderttausend Menschen vor Hunger sterben werden, weil sie nicht in Hochburgen des Wohlstands, sondern in Bangladesch oder Nigeria leben?
Hungern in der Weltfamilie
Unsere Welt ist ein gemeinsames Haus: Papst Franziskus veranschaulicht dies immer wieder. Als Kinder Gottes sind wir eine Weltfamilie. Ließen wir in unserem Familienhaus einen Mitbewohner hungern, wenn genug Nahrung für alle vorhanden ist?
Jedes Jahr produzieren wir mehr Nahrungsmittel als die ganze Menschheit benötigt, um satt zu werden. Zugleich lassen wir unsere überschüssigen Vorräte verkommen und die Armen verhungern, weil die Welthandelsstrukturen verzerrt und das Regierungshandeln ineffizient ist. Derzeit wird angesichts des Putinschen Angriffskrieges von einer Zeitenwende gesprochen: Die Welt rüstet auf, um für die geostrategischen Herausforderungen gewappnet zu sein. Wann beginnt die Zeitenwende im Kampf gegen den Welthunger? Wie viele Menschen müssen noch an Hunger sterben, damit wir helfen, wo wir helfen können, um den Ärmsten der Armen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen?
Der Autor lehrt Philosophie an der Universität Siegen, der Hochschule für Philosophie München und der WHU Vallendar. Die Kolumne erscheint in Kooperation mit der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach.
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