Berlin

Die Linke auf der Heimatsuche

Heimat ist ein sozialpolitisches Thema. Eigentlich müsste sich die Linke dieser Frage annehmen. Doch sie vernachlässigt es

Das kam überraschend: In einer Medienwelt, die aus historischen Jahrestagen oft opulente Rückblicke macht, spielte die Gründung des Deutschen Reiches vor 150 Jahren – am 18. Januar 1871 – zuletzt kaum eine Rolle. Hier und da einige Beiträge, sonst nichts. Warum eigentlich? Auch im linken politischen Spektrum hätte das Ereignis Anlass geboten, an einen für Linke Identität stiftenden Impuls zu erinnern (durchaus ähnlich wie bei vielen Konservativen und National-Liberalen): die Reichsgründung 1871 als Startschuss für einen linken Heimatbegriff, angetrieben von einem starken wirtschafts- und sozialpolitischen Impetus. Wer also „Heimat“ als ein Thema in der rechten Ecke sieht (oder sehen will), irrt. Auch die Linke hat „ihren“ Heimatbegriff, der eng mit der Entstehung der Reichsgründung verbunden ist und seitdem zu ihrem Traditionsschatz zählt. Doch die Zusammenhänge werden von den Linken selbst offenbar nicht erkannt. Anders ist das Schweigen kaum zu erklären. Aber der Reihe nach.

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Heimat der Arbeiterschaft

Besonders deutlich wird der Zusammenhang der Staatsgründung 1871 und dem Aufkommen eines linken Heimatverständnisses im Kampf um die „Soziale Frage“, die von Linken als nationale Aufgabe aufgefasst wurde, um Deutschland als Heimat der Arbeiterschaft lebenswert zu machen. Die heute von manchen Linken wie dem Chef der thüringischen Staatskanzlei Benjamin-Immanuel Hoff oder Staatssekretär Alexander Fischer aus Berlin (beide „Die Linke“) vertretene Maxime „Links ist da, wo Menschen eine sichere Heimat (auch in der Fremde) und damit Zukunft und Möglichkeitsräume haben“ galt für Linke mit Blick auf Heimat und Nation also schon früh. Bereits zu Bismarcks Zeiten stritten sie leidenschaftlich dafür, die prekären Lebensverhältnisse ihrer Klientel, der Arbeiterschaft, im aufblühenden Industriesektor zu verbessern (in ähnlicher Weise wie das katholische Zentrum es tat).

„Deutsch ist, wem seine Mutter ein deutsches Lied gesungen hat, wer Deutsch redet und in deutschen Worten denke.“ Ernst Bloch

Die SPD wurde jedenfalls zu einer Art „Heimat-Partei“. Bei Bismarcks Abgang 1890 war sie stärkste Partei im Reich. Hinzu kam, dass die sozialpolitische Dimension des linken Heimatverständnisses schon früh auf kulturellem Terrain flankiert wurde. Dort stehen Denker wie Kurt Tucholsky und Ernst Bloch für die Tradition, „Heimat“ links zu besetzen. „Wenn sich Tucholsky, der gegen alles Vaterländische und Patriotische samt Fahnen und gezückten Schwertern immun war, die Heimatliebe nicht nehmen lassen wollte, sprach er nicht nur für sich selber“, so die Historikerin Ute Frevert. „Er schloss auch Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten und Freiheitsliebende aller Grade ein, die ohne Säbelrasseln an ihrem Heimatland hingen. Er hätte Juden ebenfalls dazuzählen können.“ Ernst Bloch, der aus einer bürgerlich jüdischen Familie stammte, beschrieb das „Haus der Deutschen“ so: „Deutsch ist, wem seine Mutter ein deutsches Lied gesungen hat, wer Deutsch redet und in deutschen Worten denke. Die Sprache schafft das Volk und umgrenzt seinen Kreis. Rasse war einst, in der Vorzeit... Landschaft, Heimat ist stärker. Sie gibt Farbe und Musik. Geschichte ist schwer von Gewicht. Sie zeigt die Grenzen und Bestimmung.“ Soziale Prägungen und wirtschaftliche Gewohnheiten entstehen oft in der Kindheit. Auch diese (heute gängige) Erkenntnis gehörte früh zum linken Heimatverständnis. Tucholsky etwa verwies auf die große Bedeutung von Kindheitserinnerungen für das Heimatgefühl.

Heimat als Gestaltungsaufgabe

Und heute? Von früheren Verteilungskämpfen und Extrempositionen wie die Sicht auf den Kapitalismus als Feind der Heimat ist die Linke größtenteils abgerückt. Dennoch ringt sie mit dem Thema. Diesmal allerdings eher im Verborgenen und im eigenen Lager. Die Fronten verlaufen dabei nicht so sehr zwischen SPD, Grünen und Linkspartei, wie man meinen könnte, sondern eher zwischen Pragmatikern und Fundis, die es in allen drei Parteien gibt. Etliche prominente Linken-, SPD- und Grünen-Politiker sehen im Politikfeld „Heimat“ eine neue Gestaltungsaufgabe, darunter Katrin Göring-Eckart, Sigmar Gabriel, Bodo Ramelow oder Robert Habeck. Meist geht es ihnen dabei (unausgesprochen) vor allem um eines: Der Rechten das Thema abspenstig zu machen. Vertiefende Diskussionen werden eher vermieden.

„Links ist da, wo keine Heimat ist.“ Thomas Ebermann

Ganz anders sieht es der grüne Alt-Vordere Thomas Ebermann, Vertreter des Postulats „Links ist da, wo keine Heimat ist“. Für ihn ist „Heimat“ wie für manch andere linke „Fundis“ ein Thema, das man nicht mit der Kneifzange anpacken sollte. In seinem Buch „Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung“ (2019) seziert Ebermann das linke Heimatverständnis und identifiziert es zum Großteil als Anleihe im rechten Lager, die es unter Linken prinzipiell nicht geben dürfe. Heimat, so Ebermann, bedeute immer Ausgrenzung und müsse zu Gewalt führen. Der Fokus auf „Heimat“ verschleiere, dass die Lebensverhältnisse sich radikal ändern müssten, damit Wohlbefinden überall herrsche – und Heimat als Konzept überflüssig sei. Ironie der Geschichte: Vor 150 Jahren war es gerade „Heimat“, die Linke auf eine ähnliche, revolutionäre Weise schaffen wollten.

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