Im Laufe der Geschichte haben Prinzipien der christlichen Ethik ganz wesentlich zur ethisch-normativen Orientierung und zur sozialen Ausgestaltung der Marktwirtschaft beigetragen. Sie müssen aber immer wieder durch Anpassung ihrer Normen an die sich verändernden gesellschaftspolitischen Bedingungen aktualisiert werden. Tiefgreifende Probleme der heutigen Zeit – wie Armut und Arbeitslosigkeit, Marktversagen und soziale Ungerechtigkeit, aber auch politische Desintegrationstendenzen, gesellschaftliche Polarisierung und Umweltproblematik – sind für die christliche Sozialethik und für die öffentliche Rolle der Kirche eine Herausforderung und zugleich eine Chance. Zu fordern ist daher nicht nur eine Erneuerung der Wirtschaftskultur in Europa, sondern auch die Suche nach innovativen Antworten, durch die die Zukunft des menschlichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft gesichert werden kann. Und genau hier sind die Reflexionskraft und die Problemlösungsfähigkeit der christlichen Sozialethik von Nöten.
Moralische Normen in der Marktwirtschaft
Wenn die philosophische Ethik die Aufgabe hat, nach Maßstäben für das richtige und gute Handeln zu suchen, dann hat die Wirtschaftsethik das Ziel, aufzuzeigen, wie moralische Normen in der Marktwirtschaft zur Geltung gebracht werden können. Auch die christliche Sozialethik befasst sich aus theologischer Perspektive mit wirtschaftsethischen Problemen. Sie versucht, Fragen zu beantworten, wie etwa: Was heißt, eine menschenwürdige Entfaltung des Menschen zu ermöglichen? Nach welchen Grundsätzen und mit welchen Maßnahmen können wir bei den heute ablaufenden Transformationsprozessen eine gerechte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gestalten, die auch in Zukunft Bestand haben kann?
Dienst am Menschen
Die christliche Perspektive bedeutet für die Wirtschaftsethik, dass sie das wirtschaftliche Verhalten und die wirtschaftlichen Institutionen von einem umfassend ethischen Standpunkt aus untersucht, eine in normative Fragestellungen eingebettete Wirtschaftsanalyse erarbeitet und die Grenzen der ökonomischen Rationalität sichtbar macht. Eine christlich orientierte Wirtschaftsethik ist nicht vormodern. Sie versteht sich auch nicht als eine exklusiv christliche Konzeption des Wirtschaftens, sondern als eine Alternative, die auf der Grundlage eines spezifisch christlichen Verständnisses vom Dienst am Menschen einen Beitrag zur Gesellschaftsgestaltung leisten kann. Die christliche Sozialethik kann dazu beitragen, aus der Sackgasse herauszufinden, in die Konzeptionen geraten sind, die auf einer Trennung von wirtschaftlicher Analyse und normativen Überlegungen bestehen. Hier könnte sie Anregungen dafür geben, wie wirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit und die Förderung des Gemeinwohls sich miteinander verbinden lassen.
Der Autor ist Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.Die Kolumne erscheint in Kooperation mit der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.
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