Zunächst zwei erfreuliche Nachrichten: Entgegen der Befürchtung vom Sommer 2022 sind sowohl eine schwere Rezession als auch eine ausgewachsene Energiekrise mit Blick auf Deutschland für dieses Jahr aller Voraussicht nach nicht zu erwarten. Und: Entgegen zahlreicher Medienberichte, basierend auf einer "Bild"-Schlagzeile vom 24. Januar, wandert Biontech nicht nach Großbritannien aus. Das Mainzer Biotechnologieunternehmen, welches im Zuge des Coronajahres 2020 gemeinsam mit dem US-Pharmakonzern Pfizer in Rekordzeit einen Coronavirus-Impfstoff entwickelte und damit international bekannt und erfolgreich wurde, wird dem Wirtschaftsstandort Deutschland treu bleiben. Dies dürfte nicht nur die Stadt Mainz freuen, die sich dank der durch Biontech generierten Steuereinnahmen immer stärker der Schuldenfreiheit annähert, sondern auch die Ampelregierung um Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der am Erscheinungstag dieser "Tagespost"-Ausgabe eine neu von Biontech errichtete Plasmid-DNA-Produktionsstätte in Marburg besuchen will.
Doch für die Bundesregierung bedeutet diese gute Nachricht keineswegs eine grundsätzliche Entwarnung. Denn obwohl die Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci am Firmenstandort Mainz festhalten werden, blickt das milliardenschwere Unternehmen dennoch in der Tat nach Großbritannien. Der Grund: Um mit der Entwicklung beziehungsweise im Konkurrenzkampf um die Erstellung eines Impfstoffes gegen Krebs voranzukommen, hat Biontech Anfang Januar eine strategische Partnerschaft mit der britischen Regierung initiiert, deren Ziel es ist, die Umsetzung klinischer Studien mit personalisierten mRNA-Immuntherapien zu beschleunigen. Bei der Bekanntgabe der Partnerschaft betonte Sahin, dass Großbritannien Covid-19-Impfstoffe so schnell habe bereitstellen können, "weil der nationale Gesundheitsdienst, akademische Forschungseinrichtungen, die Aufsichtsbehörde und der Privatsektor beispielhaft zusammengearbeitet haben" - was im Umkehrschluss als Hinweis in Richtung Berlin gedeutet werden darf, dass hierzulande diese Zusammenarbeit eben nicht so gut gewesen sei.
Demografie, Bürokratie und Fehlentscheidungen ziehen Deutschland runter
Biontech ist mit seiner (lediglich implizit ausgesprochenen) Kritik am Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland nicht alleine: Auch die Pharmasparte von Bayer erforscht neue Zell- und Gentherapien in den USA, weil sie die dortige Regulierung für besser und die Innovationsfreude für größer hält - nun will sie auch kommerziell den Fokus stärker auf die USA und China richten. Der Chemiekonzern BASF wiederum hat angesichts hoher Energiepreise Einsparungen in Deutschland angekündigt, während er zugleich in China ein riesiges neues Werk baut. Und nicht nur das: Rund 20 Prozent der hiesigen Mittelstandsunternehmen erwägen laut einer Umfrage des Bundesverbandes Mittelständische Wirtschaft - immerhin 20.000 Mitglieder stark - aufgrund des Vorschriften- und Kostendrucks hierzulande eine Auslagerung ihrer Geschäftstätigkeiten ins Ausland. Eine weitreichende De-Industrialisierung steht also zur Debatte.
"Deutschland wurde in den vergangenen Jahrzehnten so reglementiert und kontrolliert, dass heute nichts mehr richtig funktioniert", sagt Markus Jerger, Vorstandschef des Bundesverbandes Mittelständische Wirtschaft, gegenüber "The Pioneer". Und er ergänzt: "Wir reden immer nur von erneuerbarer Energie. Wir müssen aber das Land in Gänze erneuern, sprich Deutschland transformieren, digitalisieren und optimieren" - was angesichts des Arbeits- und Fachkräftemangels sowie hoher Inflationsraten und volatiler Energiepreise allerhöchste Zeit ist.
Bedeutungsverlust des Wirtschaftsstandortes Deutschland
Immer mehr Statistiken dokumentieren den Bedeutungsverlust des Wirtschaftsstandortes Deutschland schonungslos. Zunächst in puncto Gefühlslage: Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach zweifeln viele Deutsche an der Zukunftsfähigkeit ihres Landes - nur noch 39 Prozent der Befragten glauben, dass Deutschland in zehn bis 15 Jahren noch zu den führenden Wirtschaftsnationen gehören wird. Fast 80 Prozent sind zudem der Überzeugung, dass sich der Staat durch eine überbordende Bürokratie selbst lähmt. Und immerhin die Hälfte der Befragten hat das Gefühl, dass schon jetzt vieles im Land "nicht mehr richtig funktioniert".
Gestützt werden diese Mutmaßungen durch Fakten: Laut einer aktuellen Standort-Studie, die das Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen regelmäßig erstellt, liegt Deutschland nur noch auf Platz 18 von 21 untersuchten Industrieländern. Negativ entwickelt haben sich laut ZEW-Angaben vor allem die Faktoren Steuern, Regulierung und Infrastruktur. Und auch die Staatsbank KfW, ansonsten keineswegs für alarmistische Warnungen bekannt, blickt in einer neuen Studie äußerst sorgenvoll in die bundesrepublikanische Zukunft: Von "andauernden Wohlstandsverlusten", "Verteilungskonflikten" und einer regelrechten ökonomischen "Zeitenwende" ist darin mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland ebenso die Rede wie die dringende Forderung an die politischen Akteure, dem entgegenzusteuern.
KfW: Wohlstand zum Nulltarif ist Vergangenheit
Laut KfW-Angaben ist der Wohlstand in Deutschland über 70 Jahre hinweg fast durchgehend gewachsen, ohne das hierfür größere Reformen nötig gewesen wären. "Diese Zeiten sind vorbei. Das Fundament für weiteres Wohlstandswachstum bröckelt", heißt es in der Analyse - schon jetzt werde jedes zweite Unternehmen gebremst, weil ihm Fachkräfte fehlen. "Bleibt das Produktivitätswachstum derart schwach und verstärkt sich gleichzeitig der Rückgang des inländischen Fachkräfteangebots, bedeutet dies eine Zeitenwende", warnen die Autoren. Deutschland träte dann noch in diesem Jahrzehnt in eine Ära stagnierenden, womöglich schleichend schrumpfenden Wohlstands ein. Zunehmende Verteilungskonflikte und der Streit um knappe Ressourcen seien zu erwarten.
Die zentrale Forderung der KfW-Studie lautet deswegen: Angesichts des seit Jahrzehnten immer offensichtlicher werdenden demografischen Wandels, des bis mindestens 2035 anhaltenden millionenfachen Renteneintritts der Baby-Boomer-Generation (die rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung repräsentieren) sowie des damit einhergehenden Arbeitskräfte- und Produktivitätsschwundes braucht Deutschland dringend Millionen zusätzlicher Arbeitskräfte und muss produktiver arbeiten, wenn das Land nicht dauerhaft ärmer werden soll. Im Ausland erworbene Abschlüsse müssen schneller anerkannt sowie bürokratisch gegenüber Einwanderungswilligen und ihren Familien abgerüstet werden, fordert die KfW. Darüber hinaus sehen die Autoren der Studie neben der Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte zwei weitere Rezepte, um den deutschen Wohlstandsverlust abzumildern: Mehr Einheimische, vor allem Frauen und Ältere, in Arbeit zu bringen sowie die Arbeitsproduktivität zu steigern.
Die KfW betont jedoch: Keines dieser Rezepte ist alleine in der Lage, das Fachkräfteproblem zu lösen - denn die Veränderungen in den einzelnen Bereichen müssten eigentlich so weitreichend sein und so schnell stattfinden, dass die Ökonomen das nicht für möglich halten. So müsste den Szenarien der Bank zufolge die Erwerbsbeteiligung in Deutschland von Menschen im Alter von 15 bis 64 Jahren von heute knapp 80 Prozent bis 2035 auf knapp 90 Prozent steigen, um die Lücke zu schließen. Die Nettozuwanderung müsste von 330.000 im Jahr 2021 auf 1,8 Millionen Zuwanderer im erwerbsfähigen Alter je Jahr steigen, wenn allein dieser Hebel genutzt werde. "Eine Nettozuwanderung in dieser Größenordnung erscheint unrealistisch", heißt es in der Studie - unabhängig davon, wie offensichtlich es gegenwärtig beispielsweise nicht einmal für die bereits hier lebenden Menschen gelingt, genügend bezahlbaren Wohnraum zu errichten.
Den "Perfekten Sturm" abwenden
Ganz nach dem Motto "Du hast keine Chance, also nutze sie" muss die Ampelregierung nun in den sauren Apfel beißen und - unter Berücksichtigung zahlreicher Versäumnisse der Vorgängerregierungen - einen wahren Kraftakt vollbringen, um den Standort Deutschland fit für die Zukunft zu machen. Neben der Steigerung von Produktivität und Arbeitskraft, die nur in Form von massiver qualifizierter Zuwanderung und der Attraktivitätssteigerung des Lebens in Deutschland, massiver Digitalisierung und Robotisierung, der Vorfahrt für Innovationen und Entbürokratisierung sowie der Neuaufstellung des Sozial- und Rentensystems gelingen kann, müssen gleichzeitig sowohl die innere und äußere Sicherheit als auch die Bekämpfung der Klimakrise ein Upgrade erfahren.
Best-Practice-Beispiele gibt es hierfür weltweit zur Genüge zu beobachten: Sei es die kanadische Einwanderungsgesetzgebung, die österreichische Rentenfinanzierung oder die Digitalaffinität der baltischen Staaten zahlreiche Länder machen es dem sich oftmals immer noch als politischen und ökonomischen Musterknaben wähnenden Deutschland bereits seit längerem vor, wie man es besser machen kann. So oder so ist klar: Nicht nur militärisch braucht Deutschland eine Zeitenwende.
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