Arbeitsmarkt

Auch in Frankreich wird das Personal jetzt knapp

Nicht nur in Deutschland werden Arbeitskräfte verzweifelt gesucht.
Paris, France, September 7, 2022 - France s Labour Minister Olivier Dussopt leaves after taking part in the weekly cabin
Foto: Imago | Er soll bis 2027 für Vollbeschäftigung sorgen und muss den Arbeitskräftemangel beheben: Der französische Arbeitsminister Olivier Dussopt.

Krankenhäuser schließen Betten und Notfallstationen, im Pariser Raum reduziert sich die Schlagzahl von Bussen und Bahnen, die Polizei legt sich eine Bürgerreserve zu: Es vergeht kein Tag, ohne dass der Mangel an Fachkräften in französischen Medien Schlagzeilen macht. Im Nachbarland trifft eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit auf die gleichzeitige Schwierigkeit von Unternehmen in allen Sektoren, geeignete Fachkräfte oder gar Bewerber auf offene Stellen zu finden. Eine neue Studie von Adecco-Analytics schätzt, dass in Frankreich in den kommenden 12 Monaten 4,5 Millionen neue Stellen ausgeschrieben werden. Gleichzeitig waren im zweiten Trimester 2022 knapp drei Millionen Personen als arbeitslos gemeldet. Die Arbeitslosigkeit befindet sich aktuell auf einem Rekordtief von 7,4 Prozent, liegt damit jedoch immer noch über dem europäischen Durchschnitt von sechs Prozent.

Alle Branchen sind gleichermaßen betroffen

Alle Sektoren sind vom Fachkräftemangel betroffen, besonders häufig im Blick sind dabei der Gesundheits- und Pflegebereich, sowie die Bildung. Vor kurzem verstarb zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate ein Patient auf einer französischen Notfallstation, weil er mehrere Stunden auf eine Behandlung warten musste. In diesem Zusammenhang reißt auch die Diskussion über die 15 000 Angehörigen des medizinischen Personals, die aufgrund fehlender Corona-Impfung suspendiert wurden, nicht ab. Im Frühjahr hat die Affäre um den Altenheimbetreiber Orpea einen gravierenden Mangel an Arbeitskräften in der Altenpflege offenbart. Darüber hinaus sind weitere systemrelevante Sektoren wie das öffentliche Transportwesen und der Einzelhandel betroffen, aber auch Gastronomie und Industrie.

In einigen Sektoren möchte die Regierung nun den Mangel an Fachpersonal durch die Anstellung fachfremden oder ungelernten Personals ausgleichen – und trifft damit auf den Widerstand der betroffenen Berufsgruppen. Durch einen Ministerialerlass können Krippen seit Anfang September Personen aus anderen Erziehungsberufen oder dem medizinisch-sozialen Sektor einstellen, die nicht für die Altersstufe null bis drei Jahre ausgebildet sind. Gleichzeitig wird es „in lokalen Ausnahmefällen, in denen ein Mangel an Fachkräften herrscht“, auch möglich sein, Personen ohne Ausbildung in den genannten Bereichen einzustellen und sie intern auszubilden.

„Regierung verwaltet den Mangel“

Gewerkschaften und Arbeitnehmervereinigungen werfen der Regierung vor, den Mangel zu verwalten, anstatt die betroffenen Berufsfelder aufzuwerten. Das Kollektiv „Pas de bébés à la consigne“ (Keine Babys im Schließfach) ruft zu einem landesweiten Streik am 6. Oktober auf, um gegen die Maßnahmen der „Regierung Macron“ zu protestieren, die für die verschlechterten Betreuungsverhältnisse verantwortlich sei.

Nicht erst die Corona-Krise hat den Lehrermangel  an französischen Schulen intensiviert. Zu große Klassen, lange Anfahrten, ein hohes Arbeitspensum bei sinkender Bezahlung veranlasst mehr und mehr junge Lehrer, sich umzuorientieren. Da reguläre Stellen immer schwerer zu besetzen – und für die „Education nationale“ teurer – sind, setzt das Bildungsministerium vermehrt auf fachfremde Aushilfslehrer: 4 000 sollten davon zum Schulbeginn dieses Jahres eingestellt werden.

Im August ging ein mit versteckter Kamera gefilmtes Video viral, in dem sich eine Reporterin des Fernsehsenders BFM-TV mehreren Bewerbungsgesprächen als Grundschullehrerin unterzogen hat. Alle drei „getesteten“ Schulen hätten sie mit Handkuss genommen – ohne didaktische oder pädagogische Vorerfahrung. Die einzige Voraussetzung: ein Bachelor, egal in welchem Fach. Aushilfslehrer erhalten eine vier- bis fünftägige Fortbildung vor Schulbeginn und erfahren manchmal erst am Tag des Schulbeginns, in welcher Klassenstufe sie unterrichten.

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Die Arbeitsämter müssen reformiert werden

Papa Ndiaye, der sozialistische Bildungsminister in der Regierung Borne, hatte vor dem Sommer „einen Lehrer vor jeder Klasse“ versprochen. Eine Umfrage der größten Lehrergewerkschaft Snes-FSU ergab Anfang September, dass an zwei Drittel aller Schulen mindestens ein Lehrer fehlt. In der Bildungsregion Créteil bei Paris hat sogar nur eine Schule von fünf ein voll besetztes Kollegium.

Mitte September gab Ndiaye bekannt, ein Wahlversprechen Macrons einzulösen, die Aufwertung des Lehrergehaltes auf mindestens 2 000 Euro netto zum Schulbeginn im September 2023. Emmanuel Macrons Vorschlag, das Gehalt der Lehrer aufzuwerten, die Zusatzaufgaben übernähmen, hatte während des Wahlkampfs breite Empörung unter den Lehrkräften ausgelöst.

Vollbeschäftigung als politisches Ziel

Vollbeschäftigung bis 2027 lautet eines der Ziele von Präsident Emmanuel Macron. Am 12. September hat Arbeitsminister Olivier Dussopt Maßnahmen für das kommende Jahr vorgestellt. Dazu gehört die Umorganisation der Arbeitsämter, um enger mit den Regionen und Kommunen zusammenzuarbeiten und eine individuellere Begleitung der Arbeitssuchenden zu erreichen. Ebenfalls möchte die Regierung auf die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsposten hinwirken, um gegen die Jugendarbeitslosigkeit von 12 Prozent anzugehen. Umstritten ist die Reform der Arbeitslosenversicherung, die sich nach Wunsch des Präsidenten zukünftig nach kanadischem Vorbild in Abhängigkeit von der Konjunktur gestalten soll. Dazu soll es in den nächsten Wochen Abstimmungen mit dem Arbeitgeberverband MEDEF und den Gewerkschaften geben. Letztere wehren sich vehement gegen eine Verringerung der Beiträge für Arbeitslose und haben bereits angekündigt, den durch das Ministerium vorgeschlagenen Gesprächen fernzubleiben.

Erneut beherrscht außerdem die geplante Anhebung des Renteneintritts auf 65 Jahre die politische Agenda. Zielt die Rentenreform auch zunächst auf eine finanzielle Sicherstellung des Systems, so haben Staatschef und Regierung damit ebenfalls einen längeren Verbleib der Franzosen auf dem Arbeitsmarkt im Sinn. Die größten französischen Gewerkschaften könnten demnächst gemeinsam gegen die geplanten Reformen auf die Straße gehen. Am 3. Oktober treten ihre Vertreter wieder zusammen. Erwartet die Republik ein Streik-Herbst?

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