Vor genau 50 Jahren, im Advent 1975, starb in New York die große jüdische Denkerin Hannah Arendt. In genau einer Woche ist Weihnachten: das göttliche Kind in der Krippe von Betlehem. Zwei Texte von Hannah Arendt erinnere ich im Vorausblick auf die Menschwerdung Gottes aus der Jungfrau Maria besonders lebhaft: einen Aufsatz über Natalität – „Gebürtlichkeit“ müsste man etwas verschraubt übersetzen – und einen Aufsatz über „organisierte Schuld“.
Den ersten Gedanken über Natalität als Beginn jeder Lebensgeschichte eines Menschen entwickelt sie aus einem Satz des heiligen Augustinus in seinem großen Buch „Über den Gottesstaat“; dort schreibt er: „Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen!“ Gemeint ist natürlich einmal die Erschaffung der ersten Menschen aus Bonobo-Schimpansen, die von den Bäumen krabbelten und denen Gott die erste unsterbliche Seele bei der Zeugung verlieh: Sieh da, der Mensch! Aber noch wichtiger für Augustinus ist die zweite Deutung: Mit jedem Menschen und seiner unmittelbar von Gott erschaffenen unsterblichen Seele beginnt Gott wieder neu, immer anders, immer individuell. Damit der Mensch mit sich und der Welt und den Mitmenschen etwas Gutes anfangen kann. Neu und frisch bis zur letzten Minute des Lebens, ach Unsinn: bis in alle Ewigkeit. So wie Gott es tut, seit er mit sich aus der Jungfrau Maria neu anfing als Mensch.
Das organisierte Vergessen des Menschen
Und der zweite Text ergänzt diesen tröstlichen Gedanken in verdüsterter Perspektive: Es gibt seit der Ursünde und als Erbschuld das organisierte Vergessen des Menschen, dass er etwas anderes sein soll als ein aggressiver Schimpanse oder ein gefräßiger Hecht. Und das nennt Hannah Arendt eben „organisierte Schuld“ und verweist als ein Beispiel auf die Nazi-Zeit: Wie viele fügten sich in diese monströse Zeit der organisierten Schuld und Sünde? Schuldig wird man in solcher Organisation der Menschenverachtung am Mitmenschen, dessen Behütung man frech verweigert wie einst der Kain, und an dessen verweigertem Wohl und Wehe.
Aber es gibt eben auch das Gegenteil als Möglichkeit des zivilisierten und heiligmäßigen Menschen, nicht die organisierte Unschuld, wohl aber deren kleine Schwester, nämlich die organisierte Verantwortung füreinander. Dass man schuldig werden kann am Mitmenschen im Elend, das unterstreicht Jesus selbst im Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Priester und Levit verpassen den entscheidenden Moment der Verantwortung. Oder aber man sieht Zurücksetzung und Ausgrenzung (oder wie immer die Straßengräben unserer Zeit heißen, in denen Menschen liegen) und hilft. Dieser Gedanke beflügelte die christdemokratischen Parteien beim Wiederaufbau Deutschlands nach Menschenverachtung und Weltkrieg. Es ist gut, sich an Weihnachten an diese christliche Wurzel unserer Marktwirtschaft und unseres Sozialstaates zu erinnern: Die Menschwerdung Gottes beginnt mit jedem Menschen neu und erfordert organisierte soziale Verantwortung. Und das soll gelingen in einem Staat, der beides nachahmt, was Gott beim Menschen beginnt und fortsetzt: Fördern und Fordern. Umsonst ist nur der Anfang von Gott, an Weihnachten und unseres Lebens. Der Himmel aber ist nicht umsonst zu erreichen; es braucht Anstrengung und Mühe. Um Gottes willen.
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