Nur eine Sache stört mich: viele Menschen kategorisieren mich jetzt als ,die Kopftuch tragende Muslima, die Marienhymnen singt‘“, sagt die 32-jährige Ägypterin Dalia Ihab Younis mitten im Gespräch, als sie davon erzählt, warum sie in Kirchen christliche Marienlieder auf Arabisch singt – und die Videos davon sie weltweit in den sozialen Netzwerken bekannt gemacht haben. Ihre Geschichte beginnt an einem Valentinstag. Nach ihrem Medizin-Studium hatte sie geheiratet und einen Sohn zur Welt gebracht. Als 2016 ihr Mann sich von ihr scheiden ließ, begriff sie diesen Lebenseinschnitt als Chance: „Es war eine großartige Gelegenheit, mich selbst und meine unter Verantwortungen vergrabenen Leidenschaften neu zu entdecken. Der Valentinstag kam, und ich erkannte, dass es mein erster Valentinstag als Single nach acht Jahren in einer Beziehung war. Also dachte ich an eine einzigartige Performance-Idee: Single's Night am Valentinstag.“
Durch die Unterstützung eines Kunstzentrums in Kairo wurde der Abend ein großer Erfolg und markierte den Anfangspunkt einer intensiven Auseinandersetzung mit den verschiedensten Musikrichtungen. Bereits als Kind hörte sie häufig die Lieder der christlichen libanesischen Sängerin Fairuz, die unter anderem Hymnen der syrisch-orthodoxen Christenheit interpretiert hatte. „Ich habe die syrischen Gesänge immer als ,Kunstwerke‘ und nicht als ,Gebete‘ behandelt. So fand ich es nie unpassend für eine praktizierende Muslima wie mich, ein solches Interesse zu haben.“ Nun beschäftigte sie sich neben ihrem Beruf als Koordinatorin der Öffentlichkeitsarbeit von UNICEF in Ägypten unter anderem intensiv mit geistlicher Musik in den verschiedenen Religionen.
„Im Besonderen religiöse Texte sind für mich sehr interessant“, erklärt sie im Gespräch mit der „Tagespost“. „Diese Lyrik ist Teil dessen, was ich ,die Reflexion der Leidenschaft‘ nenne, die ein solches Genre repräsentiert. Auch wenn ich nicht ganz mit dem Glauben derjenigen übereinstimme, die solche Hymnen schreiben, komponieren oder singen, kann ich ihre Leidenschaft und Hingabe an das, woran sie glauben, spüren. Schließlich sind sie Künstler mit einem Überfluss an Emotionen, an die sie sich in diesem Kunstwerk erinnern.“
Ihre Offenheit gegenüber religiöser, nicht-muslimischer Musik hat ihr jedoch auch viele Anfeindungen eingebracht. Von christlicher Seite wurde ihr vorgeworfen, sie missbrauche die Marienhymnen, um berühmt zu werden. Und die Toleranz der praktizierenden Muslima gegenüber dem Christentum wurde hinterfragt, da der Glaube an die „Jungfrau Maria“, das einzige sei, was die beiden Religionen verbände. Der Koran betont nicht nur die Erwählung Mariens durch Gott, sondern in den Suren 19 und 21 wird ihre Gottergebenheit und Keuschheit hervorgehoben und von der jungfräulichen Geburt ihres Sohnes Jesus Christus berichtet, der im Islam als größter Prophet der Geschichte vor Mohammed geglaubt wird. Im Gespräch mit dieser Zeitung ist es Dalia Ihab Younis jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass 99 Prozent der persönlichen Angriffe gegen sie und ihr künstlerisches Schaffen von muslimischer Seite stammen. Gegenüber dem Nachrichtenportal Al-Monitor verteidigte Amna Nosseir, Professor für Islamische Philosophie an der Al-Azhar-Universität in Kairo vor Kurzem ihr Singen christlicher Marienhymnen: „Dalia kennt ihre Religion sehr gut. Im heiligen Koran anerkennen wir Maryam [Maria]. Es gibt nichts im islamischen Recht, was den Gesang für die Jungfrau Maria verbietet. Sie singt nur, um ihre Liebe zur gesegneten Maryam auszudrücken, nimmt nicht an christlichen Gebeten oder einer Messe teil.“
Im Gespräch mit der „Tagespost“ verweist die ägyptische Sängerin im Besonderen auf den interreligiösen Wert der Kunst im Allgemeinen und ihres Schaffens: „Kunst ist ein großer Brückenbauer zwischen verschiedenen Menschen. Ich forsche intensiv, wenn ich ein neues Projekt angehe und lerne viel über die Kultur des anderen. Ich glaube, wenn dies in größerem Umfang geschieht, werden viele entdecken, dass sie mit Lügen über die anderen reingelegt wurden. Und sie werden erkennen, dass uns mehr verbindet als uns unterscheidet.“
Mozarts „Requiem“ hat sie auch schon gesungen
Um mehr über Musik zu lernen, schloss sie sich zwei Chören an. Zuerst trat sie dem „German University Choir Music Ensemble“ bei, als dieses Mozart's Requiem einstudierte. „Dort fand ich heraus, dass ich Sopranistin bin, und dass klassischer Gesang mein Steckenpferd ist.“ Danach schloss sie sich einem libanesischen A-Capella-Chor an. „Einer der Aspekte, die ich gelernt habe, war die Wirkung der Kirchenarchitektur auf den Klang. Das Echo und der Hall, die durch die Kuppel und den Marmor entstehen, verleihen den menschlichen Stimmen eine charmante Wirkung.“ Daher entschied sie sich dazu, den Hymnus „Rosen für Dich, Maria“, den sie ebenso durch die Sängerin Fairuz kennengelernt hatte, in einer Kirche durch ihre Stimme erklingen zu lassen und daraus wurde eines ihrer bekanntesten Videos.
Vermittelt durch einen Freund erhielt sie die Erlaubnis, in der römisch-katholischen Kirche Sankt Joseph in Kairo vor einer Marienstatue zu singen und dies als Video aufnehmen zu dürfen. Mit zaghaftem Blick auf die Statue singt sie den Hymnus und stellt vor Maria weiße Blumen in eine Vase. Dann, noch während des Gesangs, wendet sie sich von dem Marienaltar ab, um eine Kerze in der Kirche zu entzünden.
Dieses Video nahm sie am 17. August auf und veröffentlichte es später zusammen mit einem kurzen Text zum koptischen Fest „Mariä Aufnahme in den Himmel“: „In der Vergangenheit, während des ,Marienfests‘, fand in Ägypten eine schöne Zeremonie statt, bei der eine Statue der Jungfrau Maria mit Rosen geschmückt in Paraden um die Kirchen getragen wurde. Als ich sah, wie freudig und schön es im Libanon ist, hatte ich die Hoffnung, dass es hier eines Tages wiederbelebt werden könnte. Also ging ich zu ihrem Fest, das dieses Jahr am zweiten Tag des islamischen Eid El-Adha stattfindet, um ihr Rosen buchstäblich und stimmlich zu geben, indem ich ,Rosen für Dich, Maria‘ sang; ein Zeichen der Liebe und Hoffnung, dass vielleicht im nächsten Jahr unsere Feste und Freuden doppelt sein werden.“
Ihr neuestes Video wird sie in zwei Wochen online stellen. Wieder ist es in einer Kirche in Kario aufgenommen, in der Allerheiligen-Kathedrale der Episkopalkirche von Jerusalem und dem Nahen Osten. Diesmal singt sie jedoch keinen Hymnus für Maria. Auf der Grundlage des Vierten Satzes aus Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie, der „Ode an die Freude“, hat sie ein Lied getextet, das sie zusammen mit 44 Muslimen und einem Christen singt, um das Bewusstsein in der ägyptischen Gesellschaft für die Rechte stummer und tauber Menschen zu erhöhen.