Der Duft von Kunststoff, der Klang von raschelnden Kartons und das grelle Neonlicht über endlosen Gängen: Willkommen in Yiwu, dem Weihnachtssupermarkt der Welt, dem „Yiwu International Trade Market“. Mit Weihnachtsmärkten hierzulande verbindet man eher verschneite Holzhütten oder Lichterglanz aus dem Erzgebirge, hier dagegen stapeln sich rote Nikolausmützen, glitzernde Kugeln und blinkende Lichterketten in riesigen Hallen, und Händler aus aller Welt eilen von Stand zu Stand.
Rund 70 Prozent aller Weihnachtsartikel weltweit stammen aus dieser Stadt in Chinas Provinz Zhejiang. Mit 1,9 Millionen Einwohnern ist Yiwu eine moderne Handelsmetropole, deren Kern das Weihnachtsgeschäft ist. Hunderttausende Arbeiter in Werkstätten und Fabriken fertigen von Spielzeug über Christbaumkugeln bis hin zu Lichterketten alles, was Weihnachten ausmacht – schnell, günstig und in hoher Stückzahl.
Noch vor fünfzig Jahren war Yiwu ein ruhiger ländlicher Kreis, Bauern tauschten gelegentlich Waren, und das Leben war bescheiden. Die Wirtschaftsreformen unter Deng Xiaoping Ende der 1970er-Jahre brachten die Wende und öffneten die Märkte. Yiwu verwandelte sich binnen weniger Jahre in ein weltweites Handelszentrum. Von 73.000 Einwohnern 1985 stieg die Zahl auf über eine Million im Jahr 2005 – heute sind es fast zwei Millionen. 90 Prozent der Bevölkerung leben direkt oder indirekt vom Handel mit Kleinwaren, vor allem Weihnachtsdekorationen.
Am Markt reiht sich Stand an Stand, Betriebsstätte an Betriebsstätte. Händler aus Europa, Afrika, den USA und Südamerika feilschen, checken Mengen und Preise – Weihnachten ist hier längst ein globales Geschäft, das nichts mehr mit der Geburt Jesu zu tun hat. In den Hallen von Yiwu ist das ganze Jahr über Weihnachten. Offiziellen Angaben zufolge erwirtschaften die Weihnachtsbetriebe 95 Prozent des lokalen Sozialprodukts, allein mit Weihnachtsartikeln rund sechs Milliarden Dollar Umsatz.
Alles ist darauf ausgelegt, den weltweiten Bedarf zu decken: Kunstschnee, blinkende Lichter, Plastikbäume, Lametta in allen Farben. Wer Yiwu besucht, taucht ein in ein beeindruckendes Szenario: eine Stadt, die Weihnachten industrialisiert hat, ein Ort, wo Konsum, Kreativität und geschickte Handarbeit aufeinanderprallen. Zwischen der Geschäftigkeit spürt man die Energie einer Stadt, die ihre Chance genutzt hat und zum „Chinesischen Weihnachtsdorf“ geworden ist – laut, bunt und unvergleichlich.
Zhejiang ist die Heimat von Staatspräsident Xi Jinping
Da die Provinz Zhejiang auch die Heimat des Parteichefs und Staatspräsidenten Xi Jinping ist, wird sie stark gefördert, vor allem durch das gigantische Projekt „Neue Seidenstraße“. Seit 2014 gibt es zweimal pro Woche eine direkte Güterzugstrecke von Yiwu nach Madrid. Die Yixin’ou-Linie braucht jedes Mal 16 Tage. Das ist weitaus schneller als der Seeweg. Auf der Strecke von 13.000 Kilometern durchquert der Zug acht Länder, mit zwei verschiedenen Spurbreiten.
Fünfzig Prozent des Exports an Weihnachtswaren exportiert Yiwu nach Europa, 30 % in die USA, der Rest geht nach Afrika oder Asien. Das große Geschäft im weihnachtlichen Zwischenhandel machen Angehörige muslimischer Völker, vor allem aus Pakistan, Bangladesch und dem Nahen Osten. In Yiwu haben sich über 30.000 muslimische Zwischenhändler aus aller Welt angesiedelt, 7.000 von ihnen haben Platz zum Freitaggebet in der großen Moschee der Stadt.
Sie gehört zu den größten Moscheen in der Provinz Zhejiang. Protestanten gibt es um die 20.000. In der Weihnachtshauptstadt der Welt gibt es erst seit 2008 eine katholische Kirche, die St.-Joseph-Kirche, für eine Gemeinde von 1.000 einheimischen kath. Christen. Allerdings wurde 2025 die St.-Joseph-Kirche vom Bistum Hangzhou erweitert, weil Yiwu sich in den letzten Jahren auch immer mehr zum weltweit größten Produktionsort katholischer Devotionalien entwickelt hat. Selbst um den Vatikan herum dominieren längst die Massenwaren aus Yiwu.
Im kommunistischen China war Weihnachten überhaupt nicht bekannt. Christen konnten Weihnachten nur im Untergrund feiern. So schnell wie kein anderes Land der Welt hat China den Sprung in den Kapitalismus und in die globalisierte Welt geschafft, westliche Werte sollten damit jedoch nicht übernommen werden, bei Weihnachten hat man jedoch eine Ausnahme gemacht, es wird vor allem in den boomenden Küstenstädten immer mehr gefeiert, obwohl es noch kein offizieller Feiertag ist.
Der Weltweihnachtsbazar zieht auch immer mehr Touristen an
Wer glaubt, die südchinesische Handelsmetropole habe außer ihrem gigantischen Kleinwarenmarkt wenig zu bieten, irrt gewaltig. Denn der „Yiwu International Trade Market“ zieht zunehmend auch Touristen an. Reiseanbieter wittern längst ein Geschäft: Tagesausflüge durch den weihnachtlichen Warenkosmos gehören zum festen Programm.
Nur wenige Kilometer außerhalb des Markttreibens liegt Fotang, die historische Altstadt – ein seltenes Kulturjuwel in dieser sonst hypermodernen Region. Alte Holzhäuser, verwinkelte Gassen, traditionelle Handwerksläden und kleine Tempel verleihen dem Ort eine Atmosphäre, die viele Reisende als „authentisches China“ erleben.
Abends verwandeln Lichtinstallationen die alten Brücken in romantische Bühnenbilder. Der chinesische Geschmack für „malerische Nostalgie“ kommt hier voll zur Geltung – in einem Land, das sogar Schwarzwald- oder Tirol-Dörfer originalgetreu nachbaut.
Zu den kulturellen Fixpunkten der Stadt zählt der Jingju-Tempel, dessen Ursprünge bis ins Jahr 867 zurückreichen. Mehrfach zerstört und wieder aufgebaut, stammt das heutige Ensemble aus den 1980er-Jahren – inklusive Mahāvira-Halle und einer Bibliothek buddhistischer Schriften.
Ein weiteres Highlight ist die Guyue-Brücke, eine uralte Steinbogenkonstruktion. Wer Ruhe sucht, findet sie im Xiuhu-Park mit seinem See mitten im Stadtzentrum oder im Wangdao-Waldpark, der Natur pur in die geschäftige Handelsstadt bringt. Eine ungewöhnliche Sehenswürdigkeit ist die Senshan Town, wo versteinertes Holz – teilweise Millionen Jahre alt – ausgestellt wird.
Rund um Yiwu wird es handwerklich: Im Gangyao-Dorf pflegt man bis heute traditionelle Töpferkunst, Besucher können sogar selbst Keramik formen und glasieren. Der Luo-Binwang-Kulturpark ehrt den berühmten Dichter der Tang-Dynastie und zeigt die für Zhejiang typische Gartenarchitektur: Teiche, Pavillons, stille Wege. Neu hinzugekommen ist das Yiwu Art Museum, mit dem die Stadt ihren kulturellen Anspruch untermauert.
Yiwu möchte längst nicht mehr nur Handelshochburg sein, sondern auch ein Zentrum für moderne Kunst und kreative Energie. Yiwu liegt zudem inmitten einer der schönsten Regionen Chinas. Die Provinz Zhejiang ist berühmt für ihre Seen, Hügelketten, Flüsse und alten Tempelstädte. Von Yiwu aus ist die Weltstadt Hangzhou, ein touristisches Schwergewicht, bequem erreichbar – und macht die Stadt zu einem guten Ausgangspunkt für Kultur-, Natur- und Einkaufsreisen gleichermaßen.
Der Autor ist freier Journalist und arbeitet bei der Erzdiözese Luxemburg.
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