Es ist ein Landstrich der Wiesen und Weingärten, der Eichen, Maisfelder, Farne, Brombeerhecken. Stille Dörfer liegen weit ausgestreut, das Grün gibt den Ton an. „Entre Deux Mers“ heißt die östlich von Bordeaux beginnende Gegend, deren Name verwirrender kaum sein könnte. Denn „Zwischen den Meeren“, so die wortgetreue Übersetzung, liegt sie eben nicht, sondern zwischen zwei Flüssen, der Garonne und der Dordogne. Ebendort, inmitten dichter Waldgebiete, legten im Jahre 1079 der Benediktinermönch Gérard de Corbie und einige Getreue, weitere Mönche wie Ritter, den Grundstein für die Abtei La Sauve-Majeure.
Dank der Unterstützung der Herzöge von Aquitanien und durch die Lage am Jakobswegenetz durch den Südwesten Frankreichs gewann die Abtei rasch an Bedeutung und stieg zu einer der größten und reichsten ihrer Art auf. Geweiht war sie der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria und hieß in voller Namenslänge Notre-Dame-de-la-Sauve-Majeure. Lokale Quellen verbürgen, dass die Abtei zu ihrer Glanzzeit im 12. und 13. Jahrhundert etwa einhundert Mönche zählte und ihr sage und schreibe 70 Priorate von England bis ins spanische Aragonien unterstellt waren. Der Hundertjährige Krieg läutete den Niedergang ein, von dem sich die Abtei, trotz einzelner Versuche der Wiederbelebung, wie im 17. Jahrhundert durch Benediktiner der Kongregation des heiligen Maurus, nie mehr erholen sollte. Nach der Französischen Revolution wurden die Gebäude gar als Steinbruch genutzt. In einem Teil der verbliebenen Abteibauten waren bis zu einer Brandkatastrophe im Jahr 1910 diverse Einrichtungen untergebracht, darunter ein Jesuitenkolleg und ein Institut für Grundschullehrer. Allen historischen Widrigkeiten zum Trotz muss erstaunen, dass das Ruinenareal oberhalb des Ortes La Sauve ein Schatz der Romanik ist. Und zwar zuvorderst dank der Dekors, die sich durch die Zeiten haben retten können.
Faszinierende Flut der Bilderkapitelle
„Stellen Sie sich vor, dass der Kirchenraum ursprünglich 20 Meter hoch war“, sagt Olivier du Payrat vom französischen Zentrum der Nationalmonumente und schreitet beim Rundgang voraus in das, was einmal das Gotteshaus war. Sorgsam gepflegtes Gras breitet sich dort aus, wo sich vormals der Kirchenboden befand. Das Gewölbe ist längst verschwunden, hoch über den Besucherköpfen und in den Fensterresten steht das Stahlblau des Himmels. Enttäuschend? Mitnichten. Denn gleich hinter dem einstigen Hauptportal, in einigen Metern Höhe, geht es los mit den bildhauerischen Kunstwerken en miniature. Hier schaut man zur ersten von sechs erhaltenen Steinreliefplatten in Rundform auf, im lokalen Abteiführer „Weihemedaillons“ genannt. Jedes zeigt einen Apostel, der jeweils in der linken Hand eine kleine Kirche und in der rechten sein Attribut oder das Werkzeug seines Martyriums hält.
Über das weich gefederte Wiesenbett geht es auf die erhaltene Apsis und benachbarte Kapellen zu, die Höhepunkte der Anlage. Während hier weder vom Grabmal des Abteigründers Gérard de Corbie noch von wertvollen Reliquien, die die Gläubigen verehrten, Spuren geblieben sind, stürzen fortan die Bilderkapitelle mit unglaublicher Intensität auf ihre Betrachter ein. Da tummeln sich, mit prägnanten Fischschwänzen versehen, Sirenen, Symbole der Verführung und des Bösen. Da begegnet man Adam, der seine Sünde erkennt. Oder Daniel im Gebet, unbeeindruckt von zwei Löwen an den Seiten und in tiefstem Gottvertrauen. Oder dem Erzengel Michael, der mit martialischen Stoßwaffen gleich zwei Drachen besiegt. Da wird man zum Zeugen der Präsentation des Haupts von Johannes dem Täufer und eines Kampfes zwischen Schlangen und Basilisken. Originell und ungewöhnlich sind die Motive von Löwen mit zwei Körpern, aber jeweils nur einem Kopf. Hier schöpften die Bildhauer der Romanik aus Inspirationsquellen der Buchmalerei, wie der Abteiführer unterstreicht. Diese Art von Fantasiewesen seien unter den Illustrationen einiger Handschriften des 12. Jahrhunderts zu finden.
„Cartoons des Mittelalters“
Olivier du Payrat, der all die Bilderfolgen im Sprachgebrauch von heute humorig als „Cartoons des Mittelalters“ umreißt, deutet auf sein Lieblingsmotiv: den Teufel, der eine grässliche Fratze trägt und Jesus auffordert, sich vom turmartig dargestellten Tempel Jerusalems in die Tiefe zu stürzen. Deutlich herausgearbeitet ist dabei des Satans rechter Zeigefinger, der regelrecht aggressiv nach unten deutet. Besonders angetan hat es Monsieur du Payrat auch ein Kapitell mit Samson, den er mit seiner wallenden Haarpracht lachend als „Mittelalter-Playboy“ bezeichnet. Ein andersartiges, außergewöhnlich großes Kapitell trägt pflanzliche Motive. Ob Kiefernzapfen oder Weintrauben, ist unter Experten umstritten.
157 Stufen, zählt der Chronist, führen atemschwer in den oktogonalen Turm der Abteikirche hinauf. Die Wendeltreppen enden auf einer Plattform. Lohn der Mühen ist das Panorama. Der Blick schweift über die Ziegeldächer von La Sauve ins umliegende Hügel-, Wein- und Waldland. Schöner noch ist tief unten im Ruinenbezirk die Aussicht auf den Schattenwurf einer Mauer mit gotischen Fensteröffnungen, einzige Überbleibsel des Refektoriums. Extrem spärlich dagegen kommen die Reste des Kapitelsaals, des Kreuzgangs und der Schreibwerkstatt daher. Interessant ist es, später außen um den Apsisbereich zu gehen und zu Sparrenfiguren aufzuschauen. Unkraut sprießt aus den Mauern, manche Steine tragen einen leichten Moosüberzug.
Zum Abschied ruft Monsieur du Payrat die neuesten Zahlenwerke auf. 15 000 Besucher, darunter gut 400 aus Deutschland, kommen pro Jahr in die Abtei. Was uns das sagen will? In La Sauve-Majeure, dieser Wunderwelt romanischer Kapitelle, herrscht kein Massentourismus. Es ist ein echtes Ziel für Entdecker.
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