Die beeindruckende Silhouette des Mont-Saint-Michel gehört zu den bekanntesten der Welt. Doch die Normandie hält zahlreiche bezaubernde Gegenden für Entdecker bereit, die gerne außerhalb der ausgetretenen Wege unterwegs sind. Bei der Anfahrt von der Hauptstadt aus zieht die grüne Landschaft des Naturparks Perche am Fenster vorbei: Mächtige Eichen, grüne Wiesen und beeindruckende Landsitze. Die historische Grafschaft im Südosten der Normandie, gut zwei Stunden von Paris entfernt, gilt mit ihren Jahrhunderte alten Eichen- und Buchenwäldern als das „Land der großen Bäume“. In La Perrière könnte der Kontrast zur trubeligen Hauptstadt nicht größer sein. Entschleunigung suchen auch Gil Boyard und Jérôme, Antiquitätenhändler und Kunsthistoriker, im charmanten Örtchen, wohin sie vor zwei Jahren von Paris gezogen sind. Drei Zimmer hat ihr kleines Hotel, alle in einem anderen Stil. Im Showroom für „schöne Dinge“ des Monteloups wird morgens das Frühstück serviert. Auf der Etagere sind noch regionale Köstlichkeiten wie Käse, Früchte und die Blutwurst von Mortagne-au-Perche vom Frühstück übriggeblieben. Gil besitzt noch einen Blumenladen in Paris und pendelt einmal wöchentlich für zwei Tage dorthin zurück. Rund um das Monteloup gruppieren sich die typischen massiven Häuser mit den meist bunten Holzläden. Die Trödelgeschäfte, Tee-Salons und die Lage des Städtchens auf einem Hügel über dem Perche ziehen immer mehr Menschen an. Auch einige internationale Künstler kommen hierher. Sie haben ihr Herz an die Hügel, die Magie der Wälder und die Herrenhäuser verloren.
Stille ist hier Programm
Die schönste Aussicht auf die malerische Landschaft hat man von der Kirche aus hellem Stein, den die Sonnenstrahlen zum Leuchten bringen. Nach dem gleißenden Licht gewöhnen sich die Augen nur langsam an die dämmrigen Verhältnisse im Inneren der Kirche Notre-Dame du Rosaire. Von der Holzbank schweift der Blick durch die Dorfkirche. Ein paar Kerzen flackern im Luftzug. Die Stille ist hier Programm und lädt zum Innehalten und Beten ein. Nach der kleinen Atempause geht es zurück ins dörfliche Leben, an dem auch die Modedesignerin Chantal Thomass Interesse zeigt, die hier ebenfalls einen Wohnsitz hat. Die Stickarbeiten von La Perrière zählen schon seit dem 19. Jahrhundert zu den schönsten und wurden bereits vom großen Pariser Modeschöpfer Paul Poiret verwendet. Jedes Jahr im Frühsommer findet ein Kunstmarkt statt. Der Perche ist auch das Heimatland des Kaltblutpferdes Percheron, einem sanften Riesen mit grauer, weißer oder schwarzer Fellfarbe.
Nicht ganz so groß wie so mancher der alten Baumriesen sind die vielen Apfelbäume des Perche und noch sind die Äpfel an ihren Zweigen ziemlich winzig. Von September bis Oktober ernten Nathalie und Dominique Plessis in Le-Theil-sur-Huisne, rund zehn Tonnen Äpfel pro Tag. Auf zwei Jahre verteilt kommen so gut 220 Tonnen Äpfel zusammen – meist folgt auf ein gutes Jahr ein schwächeres. Gewaschen und sortiert kommen sie in die Presse, um als gelblicher Saft bis zu vier Monaten im Stahltank zu reifen. Eine zweite Fermentierung findet in der Flasche statt, die vor dem Verkauf noch einmal mindestens vier Monate lagern muss. „Neun Monate braucht auch ein Kind bis es zur Welt kommt“, schmunzelt Nathalie Plessis, die 1990 mit ihrem Mann die Cidrerie Traditionelle du Peche gegründet hat. Beim Probieren prickelt der Cidre leicht auf der Zunge, ein angenehmes erfrischendes Gefühl. Aus dem fünfprozentigen Apfelwein wird der Calvados gebrannt, der bei ihnen fünf Jahre im Eichenfass reift und 42 Prozent Alkohol enthält. Der Apfelbranntwein muss mindestens zwei Jahre lagern, bevor er als Calvados verkauft werden darf.
Zwischen Salzwiesen und Steinskulpturen
Rund 100 Kilometer sind es in die Normannische Schweiz, ein weiterer Geheimtipp für Naturliebhaber. Nur ein paar Minuten entfernt vom Naturparkzentrum mit Galerie und Boutique erhebt sich der Aussichtsfelsen la Roche d´Oëtre über die grüne Landschaft und das Tal des Flusses Rouvre. 118 Meter geht es von hier in die Tiefe. Ein paar Meter weiter versteckt sich das Profil eines Menschen im felsigen Gestein, das beim genauen Hinsehen markante Gesichtszüge bekommt: Augen, eine dominante Nase und einen vollen Mund. Unzählige Erosionen haben über Jahrmillionen das armorikanische Massiv geprägt. Zwar kann man von hier den Rouvre im Tal nicht sehen, aber wer genau hinhört, vernimmt ein Gurgeln und Rauschen.
Die Berge der Normannischen Schweiz ragen nur rund 400 Meter in den Himmel, aber Outdoor-Fans finden zahlreiche Herausforderungen. Gemütlich fährt das E-Bike über die kleinen, fast unbefahrenen Sträßchen, mal bergab und dann wieder bergauf. Zahlreiche Kapellen, Seen, herrschaftliche Häuser mit Pferde- und Kuhweiden und kleine Örtchen wechseln sich ab. Der kurze, aber heftige Regenschauer lässt sich im Café le Caillou beim Naturparkzentrum gut aushalten – bei selbst gemachten Karottenkuchen und Cookies. Nordwestlich, gut 100 Kilometer entfernt, befindet sich die Halbinsel Cotentin, eine wilde, vom Wind umtoste und von Wasser umwogte Region. Die Westküste hat acht natürliche Häfen, die aufgrund ihrer Lage zwischen Sandebenen und Marschland weltweit einzigartig sind. So konnte sich eine besondere Flora und Fauna mit Pflanzen, die auch im Salzwasser gedeihen, entwickeln.
Schutz vor Wind und Feinden
Hier kommt auch der GR 223 vorbei. Der „Sentier des Douaniers“ (Zöllnerweg) oder „Sentier du Littoral“ (Küstenweg) ist ein Fußweg von 446 Kilometern Länge. Er verbindet das Carentan mit dem Mont-Saint-Michel. In Saint-Germaine-sur-Ay führt Didier Lecoeur vom örtlichen Tourismus, regelmäßig Interessierte durch die Salzwiesen. Los geht es am Corps de Garde, einem Wachhaus aus dem 17. Jahrhundert. Der Wind zerrt an den Haaren und reißt an Jacken und Shirts. Das Steinhaus schützte den Hafen vor feindlichen Angriffen der Engländer und die Gruppe vor Wind und Wetter – ein Unterschlupf für eine kurze Pause. In dem kleinen Raum mit den massiven Steinmauern und Schießscharten ist heute eine kleine Kapelle. Rechts über der Eingangstür wacht die Mutter Gottes in einer kleinen Aussparung, von außen das einzige christliche Zeichen. Im Inneren steht eine Bank vor dem Altar, auf dem eine Kerze steht und ein paar Zeilen zum Lesen und Nachdenken anregen. Kleine Kreuze hängen an der rauen Wand. Geschützt durch die Mauern hört man das Tosen und das Rascheln der Blätter nicht mehr.
Draußen fegt der Wind unverdrossen über die Wiesen, die wegen der Springflut ein paar Mal im Jahr komplett überflutet werden. Jetzt wandert die Gruppe auf den kaum erkennbaren Pfaden zu den Dünen und zu einem der acht Häfen, die es einst zur Salzverschiffung gab. Auch der „Havre“ von Saint-Germain-sur-Ay war einst ein solcher Naturhafen, heute wird er durch die Gezeiten immer wieder neu geformt. Didier Lecoeur zeigt auf kleine, dunkelgrüne Halme. Dem Queller macht das Salzwasser nichts aus. Es gibt ihm eine besonders würzige Note. Die Kräuter sind beliebt und wachsen nur wild, sodass man täglich nur zwei Hände voll pflücken darf. Queller, auch Meeresspargel genannt, steht als regionale Beilage auf den Speisekarten der Restaurants. Auch die Schafe mögen ihren Geschmack und so wird ihr Fleisch als „pré-salé“, vorgesalzen, verkauft – eine weitere Spezialität der Region. 1991 wurde der Regional-Naturpark des Cotentin- und Bessin-Marschlandes wegen seiner Feuchtgebiete gegründet.
Monaco des Nordens
Gut 50 Kilometer ist Granville entfernt, das ebenfalls auf der Halbinsel liegt. Das Monaco des Nordens ist nicht wirklich ein Geheimtipp und im Sommer eher ein beliebter Ferienort. Einsam dagegen sind die Chausey-Inseln, von denen über 300 Stück der Küste vorgelagert sind. Ein Großteil verschwindet bei Flut. Nur auf die Grande Île fährt regelmäßig ein Boot. Die Insel ist eineinhalb Kilometer lang und nur bis zu einem halben Kilometer breit. Neben den 30 Bewohnern und ihren Häusern bleibt noch Platz für einen automatisch funktionierenden Leuchtturm und einen Signalturm, ein paar Übernachtungsmöglichkeiten, das Haus des Malers Paul Marin, das Fort von Napoléon III., das Schloss aus dem 16. Jahrhundert, restauriert von Louis Renault, die kleine Kirche und ein Restaurant – alles weit weg vom Massentourismus. Wer nach der gut einstündigen Überfahrt das Boot verlässt, landet geradewegs im Paradies, bei dem auch die weißen, feinen Sandstrände nicht fehlen. Straßen und Autos sucht man vergeblich.
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