Ganz ohne Flecken wird es bei der Unbefleckten Empfängnis wohl doch nicht gehen. Deshalb werden Ärmel hochgekrempelt, weiße Kittel übergestreift und Tische mit Zeitungspapier ausgelegt. Es ist noch früh am Morgen, aber die Warteschlange derer, die zu Pinsel, Farbrollen und Sprühdosen greifen wollen, wächst schnell. Hausfrauen mit Einkaufstrolleys, Großväter mit Enkeln, Schüler, Studenten und einige Angestellte, die bis zum Arbeitsbeginn noch genügend Zeit haben. Sie alle sind dem Aufruf der Warenhauskette El Corte Inglés gefolgt. Die hat anlässlich des 400. Geburtstages von Bartolomé Esteban Murillo die Aktion „Mal dir deinen Murillo“ gestartet und alle Sevillaner eingeladen, sich an der Reproduktion eines Murillo-Bildes zu beteiligen.
„Die Unbefleckte Empfängnis“ soll es werden, ein Werk, das aufgrund seiner beträchtlichen Ausmaße auch als „La Colosal“ – „Die Kolossale“ bekannt ist. Murillo schuf mit dieser blau-weiß-gekleideten Maria vor goldglänzendem Himmel einen neuen ikonographischen Prototyp für die Darstellung der Unbefleckten; die Sevillaner schaffen mit ihrer Kopie des Werkes vielleicht einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. Nachdem Die Kolossale gescannt, verpixelt und jedem Pixel ein eindeutiger Farbcode zugewiesen wurde, müssen mehr als 17 000 Kacheln in 226 verschiedenen Farbtönen bemalt werden, damit Die Unbefleckte von der Fassade von El Corte Inglés auf Sevilla blicken kann.
An den Sevillanern wird der Rekordversuch sicherlich nicht scheitern. Denn die Stadt hat es geschafft, mit der Ausrufung des Murillo-Jahres Massen in Bewegung zu bringen. Die Sevillaner malen mit an der Unbefleckten Empfängnis, besuchen Ausstellungen, Konzerte und Theateraufführungen und probieren die kulinarische Kontaktaufnahme mit Murillo, wenn an gastronomischen Events Spezialitäten aus der Zeit des Malers nachgekocht werden. Was Picasso für Málaga oder Botticelli für Florenz ist, ist Murillo für Sevilla. Anders als Diego Velázquez, der zweite berühmte Sohn der Stadt, der früh als Hofmaler des Königs nach Madrid zog, blieb die Beziehung zwischen Murillo und seiner Heimatstadt eine lebenslängliche.
Geboren an einem der letzten Dezembertage des Jahres 1617 und am 1. Januar 1618 in der Kirche von La Magdalena getauft, schickte man den früh zum Vollwaisen gewordenen Murillo bereits mit 13 Jahren in die Ausbildung zum Maler Juan del Castello. Aus dem künstlerisch hochtalentierten Jungen entwickelte sich einer der größten Vertreter des späten Barocks Sevillanischer Schule. Murillo zählte schon zu seinen Lebzeiten zu den bekanntesten Malern Spaniens. Seine Werke waren europaweit gefragt, sein Ruf so überwältigend, dass der britische Premierminister Benjamin Disraeli begeistert forderte: „Lauf mein Freund, lauf nach Sevilla und du wirst zum ersten Mal sehen, was ein großer Künstler ist – Murillo, Murillo, Murillo.“
Für den Lauf zu Murillos Werken durch das Sevilla von 2018 haben die Veranstalter des Murillo-Jahres ein kleines Netz zwischen 20 Orte der Stadt gesponnen, die eng mit Leben und Werk des Malers verknüpft sind. Wer diesen Murillo-Weg unter die Füße nimmt, kann sich den Besuch jeder Etappe in einem eigens ausgestellten Murillo-Pass mittels Stempel dokumentieren lassen und so den Moment der Begegnung mit Murillos Kunst festhalten. Was Gläubigen der Nachweis für eine ordnungsgemäße Pilgerschaft ist, wird in Sevilla zum Zeugnis einer Murillo-Mission.
Den Pass in der Hand ziehen die Kunstwallfahrer von Murillos Geburtshaus zum Alcázar, weiter zum Zisterzienserinnenkloster San Clemente, zur Kirche Santa Maria La Blanca und zum Museum der Schönen Künste, zeigen sich gegenseitig, wo das Tischlein mit der Stempelvorrichtung steht, und nicken einander in der Kathedrale anerkennend zu, wenn sie eine weitere von Murillos Unbefleckten Empfängnissen entdeckt haben. Von reizenden Engelsknaben umschwärmt schwebt sie dort duftig und zart an der Decke des ellipsenförmigen Kapitelsaals. Die Darstellung der reinen Jungfrau hatte im 17. Jahrhundert Hochkonjunktur, doch kein anderer Maler hat es zu mehr Makellosen gebracht als Murillo, der über 30 dieser Marienbildnisse schuf.
Seine Auftragsbücher waren gut gefüllt, denn beim Klerus fanden seine Arbeiten großen Anklang. Kein Wunder, war die katholische Kultur doch immer schon eine Kultur des Schauens und Malerei das Instrument zur Vermittlung des Glaubens. Murillo konnte religiöse Themen wie kaum ein anderer auf leicht verständliche Art interpretieren und ermöglichte Betrachtern ein sinnliches Erleben der Bibelgeschichte. Wenn die heilige Elisabeth von Ungarn, umringt von Armen und Kranken, die aufgekratzten Kopfwunden eines Jungen auswäscht, oder der heilige Thomas von Villanova Almosen verteilt, wirkt ihre Barmherzigkeit nicht deshalb so bewunderns- und nachahmenswert, weil Murillo die beiden Heiligen als Wohltäter ins Zentrum seiner Bilder gestellt hat, sondern weil es ihm gelingt, die Linderung eines Leidens sichtbar zu machen. Da ist der Junge, der sich mit offenen Wunden am kahlgeschorenem Kopf so über ein silbernes Becken beugt, dass glänzende Wasserreflexe sein Gesicht strahlen lassen; und da ist der Knirps von drei oder vier Jahren, der mit einer Münze in seiner kleinen Hand zu seiner Mutter gelaufen ist, beide in rötlichbraunes Licht gehüllt, als würde der Anblick des Geldstücks sie wärmen. Nur zwei Beispiele, in denen Murillo die Schattenseiten des Lebens ins Licht der menschlichen Nächstenliebe rückt.
Davon berühren lassen sich fast nur Einheimische – Sevillaner vor allem, aber auch viele eigens zum Murillo-Jahr aus anderen Landesteilen angereiste Spanier. Ausländische Touristen, die in ihrem Murillo-Pass Stempel sammeln, sind hingegen auffallend unterrepräsentiert, was leicht zu erklären ist: Zwar wusste schon Robert Gernhardt, „dass Tapas nicht das Gelbe vom Ei sind“, dennoch lässt sich der folgsame Reisende von den Marketingstrategen der Tourismusämter vorschreiben, dass er unbedingt Häppchen verzehren, mit 100 anderen in Warteschlangen stehen, fächerschwenkende Flamencotänzerinnen beklatschen und sich für schlappe 50 Euro in einer Kutsche durch Sevilla fahren lassen muss. Derart gegängelte Besucher verlernen, selbst etwas zu erleben, bis sie schließlich nur noch nachschauen, ob wirklich stimmt, was in ihren Reiseführern steht, und von Murillo steht da leider meist nichts.
Fehlen dann auch noch die üblichen Fließband-Souvenirs – nirgends ein Murillo-Mousepad, ein Murillo-Kühlschrankmagnet und auch kein Konterfei des Künstlers auf Tassen, T-Shirts und Fächern – dann können die verkümmerten touristischen Spürnasen den Weg zu Murillo gar nicht finden und verpassen, was er ihnen von seinem Leben in Sevilla zu erzählen hätte. Mitte des 17. Jahrhunderts erlebte der Maler den wirtschaftlichen und politischen Niedergang von Spaniens bis dahin größter Stadt. Reich geworden durch Kolumbus' Entdeckung der Neuen Welt und durch das offizielle Monopol auf den transatlantischen Handel, blieben nun die Schiffszüge mit dem Gold und Silber Lateinamerikas immer öfter aus. Staatliche Misswirtschaft, die Konkurrenz durch den neuen Haupthafen in Cádiz, Hungersnöte, Erdbeben und Epidemien ließen Sevillas Stern sinken. Murillo spiegelte diese Entwicklung und fing das Alltagsleben von Waisenkindern ein, von Bettlern, Landstreichern und Wasserverkäufern.
Armut ist in seinen Straßenbildern zu sehen, aber kein Elend, und wo man Verzweiflung und Verbitterung erwarten würde, überraschen einen Leichtigkeit und Lebenshunger. Schmutzige Kinder, läusesuchende Großmütter, in Lumpen gehüllte Hausierer – Murillos Menschen sind bettelarm, aber auch sie erleben Momente des Glücks, genießen die wärmende Sonne, die Süße von Weintrauben, das gemeinsame Spiel, die Nähe eines Freundes. All das hatte Murillo gesehen und andere zu sehen gelehrt. Oscar Wilde behauptete, dass es in London keinen Nebel gegeben habe, ehe Whistler ihn gemalt habe. In Sevilla gab es keine Armen, ehe Murillo sie nicht gemalt hatte.
Im Jahr 2018 wäre vielleicht der weißbärtige Obdachlose, der allmorgendlich in der Sonne meditiert, ein modernes Murillo-Motiv oder der Verrückte, der beim Laufen durch Sevillas Straßen Gedichte deklamiert, oder die beiden kleinwüchsigen Frauen, die in löchrigen Flamencokostümen fröhlich für die Kameras der Touristen tanzen. Was hätte Murillos milder Blick aus ihnen auf seiner Leinwand gemacht, was aus der Frau, die ihre Habseligkeiten in Plastiksäcke gestopft und die prallgefüllten Beutel wie Rettungsringe um einen Einkaufswagen gehängt hat, den sie laut pfeifend über die Einkaufsstraße schiebt?
Es ist eine ziemliche Übertreibung, dass niemand auf Londons Nebel und Sevillas Arme achtete, bevor sie gemalt wurden, aber erst, als Künstler sie in ihren Bildern dargestellt hatten, schauten auch alle anderen genauer hin.
Kunst kann unsere Wahrnehmung, die vorher nur flüchtig war, verstärken. Sie ermutigt uns, bewusster wahrzunehmen. Dank eines Bildes sieht man Bekanntes vielleicht zum ersten Mal richtig, und dank Murillos Kunst kehrt man vielleicht mit bereichernden Gedanken, einem anderen Blick auf Sevilla und einem Heftlein voller Stempel von seiner Reise heim.
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