Liberec in Nordböhmen liegt im Dreiländereck zwischen Tschechien, Deutschland und Polen. Früher hieß es Reichenberg. Besonders Berliner und Brandenburger verbringen hier gerne ihre Winterferien oder einen Kurzurlaub im Frühling oder Herbst – denn zwischen Isergebirge und dem über 1 000 Meter hohen Jeschkenpass findet man gute Freizeitmöglichkeiten mit Skifahren zur kalten Jahreszeit oder beim Mountainbiking und Wandern, wenn der Schnee geschmolzen ist. Baron von Liebieg trug mit seinen Textilfabriken, den größten der Donaumonarchie, viel zum Reichtum bei. Auch das weltbekannte böhmische Glas spielt bis heute eine große Rolle. Im Nordböhmischen Museum in Liberec gibt es die längste Glasleiter der Welt sowie alte Rundfunkgeräte von TESLA. Und wer weiß schon, dass Ferdinand Porsche 1875 in einem Vorort von Reichenberg geboren wurde?
„Unser Nordböhmisches Museum wurde im romantisch-historischen Stil erbaut“, erklärt Museumspädagogin Ingrid Horvath in sehr gutem Deutsch. Den Grundstein für das wunderschöne Gebäude legte man im Jahr 1898. Architektonisch ist es eine Mischung aus Kirche, Palast und Großbürgerlicher Stadt-Villa. Am Wettbewerb um den Museumsneubau „haben sich im 19. Jahrhundert viele hervorragende Architekten beteiligt. Den ersten Preis gewann der damalige Professor der Prager Kunstgewerbeschule Friedrich Ohmann“, erklärt Frau Horvath. „Wir sind zirka 20 Kilometer von der deutschen und etwa 30 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt“, erläutert Lubor Lacina. Der Historiker und Kurator ist Spezialist für die Sammlungen zur Geschichte der Stadt und der Region, die bis 1945 zu Deutschland gehörte.
Museum im Dreiländereck
Im heutigen Dreiländereck „lebten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges fast 90 Prozent deutschsprachige Menschen“, sagt Herr Lacina. Ingrid Horvath und Lubor Lacina haben Deutsch in der Schule gelernt. Ingrid lebte sogar eine Weile in Deutschland. Lubor hingegen hat durch seine historischen Sammlungsexponate viel mit der deutschen Sprache zu tun. Jährlich besuchen über 40 000 Menschen ihr Museum, darunter viele Besucher aus der Bundesrepublik.
Nach einem Rundgang durch die Bibliothek kommen wir in die naturwissenschaftliche Abteilung. Hier kann man die Flora und Fauna des nahen Isergebirges kennenlernen, ebenso wie die Berge selbst, ihre Steine und Mineralien, aber auch Bäche, Seen und Flüsse. Es gibt viele interaktive Elemente, Mitmachstationen zum Ausprobieren und Spielen, so dass besonders Kinder Freude an dem Besuch haben. „Die Schulen sind für uns sehr wichtig. Weil das unsere zukünftigen Besucher sind“, erklärt Ingrid. Das Nordböhmische Museum versucht alle Hürden abzubauen – auch finanzielle, damit seine Angebote angenommen werden. Deshalb ist der Eintritt auch kostenlos. Der Landkreis Liberec finanziert das Museum.
Musikautomaten laden zum Tanzen ein
Ein Höhepunkt ist die Abteilung für die Musikautomaten. „Wir haben die viertgrößte Sammlung in der Tschechischen Republik – etwa 60 Geräte“, erklärt Ingrid. Sie nimmt ein Zwei-Kronen- Stück und bringt eine der automatischen Maschinen zum Klingen. „Wer erkennt die Musik?“, will sie wissen. Es ist die Melodie der deutschen Nationalhymne. Viele Geräte sind aus tschechischen Werkstätten, einige auch aus Leipzig. Zwar befinden sich die meisten Musikautomaten im Depot und warten auf ihre Generalüberholung, aber mit einem 5 oder 2-Kronen Stück können die Besucher einige zum Spielen bringen, wie das elektrische Pianola. „Das ist unser Meisterstück“, sagt Lubor stolz und warnt: „Vorsicht, es wird laut!“ Eine ganze Jazzcombo erklingt mit Trommelwirbel, Klavier, Pauke, Triangel – der Raum ist voller Töne. Manches Mal fangen auch einige Paare bei der Musik spontan an zu tanzen.
Dann treten wir an einen großen Schrank, in dem sich riesige silberne Metallscheiben befinden: „Das sind Vorläufer von Schallplatten. Jedes Loch ist praktisch ein Ton“, erklärt Lubor, „man kann sie wechseln, wie CDs, aber moderne Geräte sind natürlich viel praktischer“, sagt er augenzwinkernd. „Ich bin total begeistert, die ganze Mechanik hinter der Musik zu sehen“, sagt die Brandenburgerin Friederike Meese. Ihre Kinder sehen und hören Musik fast nur noch vom Handy „und nun in die Instrumente reinzugucken, da sieht man, wie die Kurbeln auf die Zahnräder treffen, alles in Bewegung ist, und dann harmonische Melodien erklingen – das ist großartig!“
Nun geht es hoch hinaus, über 160 Treppenstufen auf die Aussichtsplattform. Im 40 Meter hohen Turm ist eine moderne Videoinstallation über die Geschichte des Glases zu sehen. Böhmisches Glas ist weltbekannt und bis heute ein Exportschlager bis nach Übersee in die USA. „Wir haben als Kunstinstallation seit kurzem eine moderne Glasleiter, die 24 Meter hoch ist und 120 Kilo wiegt. Es soll die längste Leiter aus Glas weltweit sein“, behauptet Ingrid.
Drei Stunden bis Berlin
Auf der Aussichtsplattform schwärmt Lubor von der guten geografischen Lage seiner Heimatstadt: „In etwa drei Stunden ist man in Berlin, in zwei in Dresden und in etwa einer Stunde in Prag.“ Das Museum befindet sich im sogenannten Volksgarten-Viertel, wo schon vor über 100 Jahren gerne die Sonntagsspaziergänger bummelten und ihr Bier oder ihren Kaffee tranken. Vom Turm hat man einen guten Überblick über Liberec: den historischen Stadtkern mit Rathaus mit einer Kopie des Ritters an der Spitze. „Dahinten ist der Jeschkenkamm, dort Zittau in Deutschland“, zeigt Libur in Richtung Norden. Gegenüber dem Museum befindet sich das alte Kaiser-Franz-Josef-Bad. Heute ist es eine moderne Kunstgalerie, wo einige ältere Malereien und Klassiker der Moderne ausgestellt werden. Auch Sonderschauen finden hier regelmäßig statt.
Nicht weit ist es von hier zum Tierpark oder dem Botanischen Garten. Auch ein Technisches Museum mit einer großen Zahl von Oldtimern, alten Fahr- und Motorrädern, Bussen und Straßenbahnen gibt es gleich um die Ecke. Um das historische Rathaus befinden sich nette Cafés und Jugendstilhäuser. Auch Kirchen laden zur Besichtigung ein. Sehenswert ist auch das Stadttheater und das nicht zugängliche Schloss aus dem 18. Jahrhundert.
Bitte um Beistand
Gut 25 Kilometer von Liberec entfernt befindet sich in Jablonné v Podještědí, dem ehemaligen Gabel, ein Dominikanerkloster mit der vom Wiener Architekten Jan L. Hildebrandt erbauten Laurentiuskirche. Diese Basilica Minor kann man auf dem Weg nach Liberec schon von weitem sehen. In einer Gruft ist das Grab der Heiligen Zdislava von Lämberg (* nach 1220 † 1252). Sie wird bis heute als Schutzheilige der Armen und Leidenden in Böhmen und Mähren sehr verehrt. In den Ländern der böhmischen Krone bitten Gläubige die heilige Familienmutter bis heute täglich um ihren Beistand. Nach wunderbaren Heilungen sprach Papst Pius X. sie 1907 selig. Durch Johannes Paul II. fand 1995 ihre Heiligsprechung statt.
Ein Museum muss heute interessant, abwechslungsreich und abenteuerlich sein. Das gehört zur Philosophie des Nordböhmischen Museums, ob es um mittelalterliche Tapisserien, Plastiken, Kunstschmiedearbeiten, liturgische Gegenstände, einen originalen Reisekoffer mit Inhalt von Marschall Radetzky aus dem Jahr 1820, Jugendstilplakate oder kunstvolle Gläser geht. Grenzen werden spielerisch aufgehoben und man kommt den Kunstwerken so nah wie möglich. Man kann etwas berühren, viel probieren oder anfassen.
Die Weihnachtskrippe im Museum
Aber nicht alles, wie zum Beispiel eine große, mechanische Weihnachtskrippe mit 250 Figuren von Vaclav Metelka im Keller des Museums. Unabhängig von der Jahreszeit stehen Kinder und Erwachsene staunend davor, wenn die Heiligen Drei Könige und Hirten das Jesuskind in der Krippe anbeten. Über 60 Figuren werden durch eine ausgeklügelte Mechanik bewegt. Die handgeschnitzte farbige Krippe stammt aus dem Jahr 1853. „Als Familie Metelka sie in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts dem Museum vermachte, konnte sie sich von dem Geld ein Auto kaufen“, erzählt Ingrid.
Vor einer Landkarte mit den regionalen Hauptstädten im Vestibül verabschieden wir uns: „Liberec, Usti nad Labem, Karlsbad, Pilsen, Prag, Budweis, Brünn, Ostrava, Olmütz, Königgrätz“, lesen Ingrid und Lubor die Städtenamen vor. Wir sind am Ende unserer Tour angekommen. Aber oft wollen Groß und Klein noch einmal bei den wundervollen Musikmaschinen reinhören. Zum Abschied spendiert Ingrid erneut eine Zwei-Kronen Münze …
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