Unübersehbar hängt, nein klebt der mächtige weiße Komplex hoch über dem Tal der jungen Etsch unter dem Reschenpass. Das Stift Marienberg ist aber nicht allein ein Wahrzeichen des oberen Vinschgaues, sondern als älteste Benediktinerabtei Südtirols und gleichzeitig als höchstgelegene Europas ein besonderes Reiseziel.
Schon der Blick von diesem wie ein Adlerhorst in den Bergen sitzenden Kloster hinab in das Etschtal, auf das wegen seiner Türme und alten Kirchen berühmte Städtchen Mals auf der einen, auf den Reschenpass auf der anderen Seite und die mächtigen Bergriesen der Ortlergruppe in der Ferne, lohnt die Fahrt über das kleine windungsreiche Sträßchen von Burgeis unten an der Etsch hinauf zum Kloster.
Doch wohl nur die wenigsten Besucher kommen wegen dieser faszinierenden Aussicht herauf zu dem über dem Tal entstandenen typischen Bergkloster mit seinen ineinander verschachtelten Bauten und Innenhöfen. In seiner heutigen Form stammt die Anlage aus dem 15. Jahrhundert, geht jedoch auf das 12. Jahrhundert zurück. Klostergründer des Mittelalters überließen die Wahl des Ortes für ihre Ansiedlung selten dem Zufall. 1146 verlegte Ulrich von Tarasp das einige Jahrzehnte zuvor von seinem Großonkel Eberhard von Tarasp in Schuls im Unterengadin gegründete Benediktinerkloster hierher in den Vinschgau. Der heute von Stift Marienberg gekrönte Steilhang über der Etsch hatte damals schon eine weit zurückgehende mythische Bedeutung. Bereits die keltischen Raeter hatten auf der Passhöhe des Reschenpasses nahe der Quelle der Etsch ein einer keltischen Flussgöttin geweihtes Heiligtum. Das war naheliegend, entspringt doch mit der Etsch hier oben einer der wichtigsten Flüsse Norditaliens. Heute erinnert das legendäre, bereits 1258 urkundlich erwähnte Langkreuz nahe der ins Etschtal hinabführenden Staatsstraße möglicherweise noch an die einstige heidnische Weihestätte, auch wenn es wahrscheinlich ursprünglich als Grenzmarkierung errichtet wurde.
Sicherlich mindestens so wichtig für den Klostergründer war aber die nahe der Abtei gelegene, damals schon mit einem ehrwürdigen Alter gesegnete Stephanuskirche. Das Mauerwerk dieser einst wichtigsten Kirche des oberen Vinschgaues stammt noch aus dem neunten Jahrhundert und ist damit eine der ältesten Kirchen ganz Südtirols.
Der große Schatz Marienbergs jedoch ist in gewisser Weise tief im Inneren der Berges verborgen, auf dem die heute wie ein barockes Wunder wirkende Abteikirche steht. Es sind die Fresken in der Krypta, die Marienberg einen Spitzenplatz unter den sakralen Kunstwerken Südtirols sichern. Diese Wandmalereien stammen aus der Zeit der Klostergründung in der Mitte des 12. Jahrhunderts und erlitten das gleiche Schicksal wie so viele der berühmten Wandmalereien in Südtirol. Zu Zeiten besonderer Not, Kriegen oder Pestepidemien wurden die Bilder übermalt oder mit Putz überdeckt. Die Menschen sollten in solchen Notzeiten nicht durch Bilder in den Kirchen abgelenkt werden, sondern nur beten.
Erst 1887 entdeckte man die längst in Vergessenheit geratenen Bilder wieder und legte sie, oder was davon noch zu retten war, frei. Die Kunsthistoriker sind sich einig, dass die Fresken in der Krypta von Marienberg die künstlerisch wertvollsten im ganzen Vinschgau sind, dessen Kirchen wahrlich nicht arm sind an faszinierenden mittelalterlichen Wandmalereien. Die Namen des oder der Künstler, die hier tätig waren, sind nicht bekannt, doch lässt die Darstellung der Gestalten, vor allem der Cherubim erkennen, dass die Maler bereits Kontakt zur Kunstwelt des oströmischen Kaiserreichs von Byzanz gehabt haben müssen. Man vermutet heute, dass der Künstler aus dem Kreis der kunstsinnigen Mönche von Ottobeuren gekommen ist.
Wer auch immer die Schöpfer der Wandmalereien in der Krypta von Marienberg waren, sie haben hier eine Art Malschule geschaffen, von der aus die Ausmalungen zahlreicher heute in der Kunstwelt berühmten und von Touristen besuchten mittelalterlichen Kirchen und Kapellen des Vinschgaues und darüber hinaus bis an die Südtiroler Weinstraße beeinflusst wurden.
Heute ist das Stift Marienberg, in dem noch rund ein Dutzend Benediktinermönche leben, auf Südtiroler Seite das Kernstück der vor einigen Jahren vom italienischen Südtirol und dem schweizerischen Engadin gemeinsam ins Leben gerufenen touristischen Straße „Stiegen zum Himmel“. Das Engadiner, also Schweizer Gegenstück liegt interessanterweise nur wenige Kilometer von Marienberg entfernt im Grenzort Müstair im Münstertal. Es ist das angeblich von Karl dem Großen gegründete, heute noch aktive Benediktinerinnenkloster Sogn Gion in Müstair, also Sankt Johann im Münstertal. Mit dem größten frühmittelalterlichen, karolingischen Freskenzyklus der Schweiz hat die dortige Abteikirche einen der großen kunsthistorischen Schätze der Schweiz.
Die Kirchen, die die „Stiegen zum Himmel“ miteinander verbinden, waren wie Marienberg oder Sankt Johann im Mittelalter viel besuchte Wallfahrtsziele. Vielfach konnte man sie nur auf mühseligen Pfaden zu Fuß erreichen. Bei manchen dieser Stationen ist das auch heute noch so. Von Marienberg ins Münstertal kann man zwar heute mühelos mit dem Auto fahren, braucht nur wenige Minuten. Doch es geht auch anders. Zwischen den beiden markantesten Stationen, Marienberg und Sankt Johann, wurde ein „Weg der Stille“ geschaffen und ausgeschildert. Wer auf den Spuren mittelalterlicher Pilger von einer dieser Abteien unterwegs sein will zur anderen, braucht dann sechs Stunden. Es sind sechs Stunden abseits der Hektik und des Stresses unserer modernen Zeit, zurück in jene Zeit, da Ottobeurener Mönche damit begannen, den „Adlerhorst“ Marienberg zu bauen.
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