Allerheiligen

Feiern für die Toten

Allerheiligen bedeutet, im Stillen der Toten zu gedenken? Nicht so in Mexiko City. Dort gleicht der 1. November einer fröhlichen Party. Von Sabine Ludwig
Die Blütenteppiche auf den Straßen von Guanajuato.
| Die Blütenteppiche auf den Straßen von Guanajuato.

Es sind die stillen Tage, die der November mit sich bringt. An Allerheiligen gedenken Katholiken ihrer Toten, während am Totensonntag oder Ewigkeitssonntag die evangelischen Christen dies tun. Besucht werden die Friedhöfe an Allerheiligen und Allerseelen gerne von beiden Religionsgruppen, sei es wegen der Stimmung oder dem Andenken an die Lieben, die gegangen sind. Die Gräber zieren Blumen und frisches Grün und oftmals auch ein „Ewiges Licht“. Der fast mystische Schein der Kerzen gibt den Friedhöfen an diesen Tagen eine ganz eigene Stimmung.

Dass Allerheiligen am Beginn eines nebligen und nasskalten Herbstmonats gefeiert wird, ist kein Zufall. Die Menschen in früherer Zeit verbanden damit die Erfahrung der sterbenden Natur mit welken Blättern, abgeernteten Feldern und zunehmender Dunkelheit. Tatsachen, die Gedanken an den Tod mit sich bringen.

Die elegante Dame des Todes

Dass dunkle und traurige Tage auch ganz anders gefeiert werden können, zeigt das Fest der Toten in Mexiko. Dort, jenseits des Ozeans, ist es eine fröhliche Party, die einem Jahrmarkt mit Kirmesangeboten und fliegenden Händlern gleicht. In jeder Stadt, jedem Dorf finden sich schon Tage vor Allerheiligen Schausteller ein, die ihre Stände aufbauen und Totenköpfe aus Zuckerguss, häufig auch mit dem Namen der jeweiligen Verstorbenen verziert, anbieten. In Mexiko City säumen riesige bemalte Kunststoff-Totenköpfe die Prachtstraße Paseo de la Reforma. Es gibt farbenfrohe Prozessionen zu Ehren der Verblichenen, und gleich mehrere Skelette in prächtigen Gewändern und mit Hüten toben sich auf ihren Fahrrädern aus.

Hauptfigur und Ikone der Toten ist „La Catrina“. Die elegante Skelett-Dame wird besonders häufig dargestellt. Ihre Figur wurde vermutlich zwischen 1910 und 1913 von dem mexikanischen Kupferstecher José Guadalupe Posada geschaffen, um sich über die europäisch geprägte mexikanische Oberschicht lustig zu machen. Spätestens als Diego Rivera, der berühmte Muralist und Ehemann Frida Kahlos, „La Catrina“ in seinem Gemälde „Sonntagsträumerei in der Alameda“ aufgriff, verselbstständigte sich der Kult um das weibliche Skelett mit dem breiten Grinsen, das Lebensfreude gerade im Angesicht des Todes darstellen soll. Seit 1948 gehört „La Catrina“ zur kulturellen Identität des Landes. Dabei steht sie nicht nur für den „Tag des Todes“, sondern für die Bereitschaft der Mexikaner, nicht nur den Sensenmann auszulachen, sondern ihn auch zu feiern. Schon die Azteken huldigten den ganzen Monat August hindurch Mictecacihuatl als Göttin des Todes und des Jenseits. Erst nachdem die Spanier und damit die Christen Zentralamerika eroberten, wurden die Feierlichkeiten auf Anfang November verlegt, um sie dem Christentum anzupassen. Heute geht man davon aus, dass der aztekische Kult um Mictlancihuatl der Ursprung des mexikanischen „Día de Muertos“ („Tag der Toten“) und der Verehrung von „La Catrina“ war.

Blumenteppiche, Musik und Tanz

Die Kleinstadt Guanajuato, etwa vier Busstunden von Mexiko-Stadt entfernt, gilt als Inbegriff der Feierlichkeiten. Schauspieler des prächtigen Teatro Principals tragen elegante Roben und haben ihre Antlitze als Totenköpfe geschminkt. Blumenteppiche liegen auf den Straßen, es gibt Musik und Tanz. Man will fröhlich sein und die Toten einladen zu den ausgelassenen Feiern und ihnen damit zeigen, dass sie nicht vergessen sind. Auf dem nahen Friedhof Santa Paula versammeln sich Menschenmengen.

Zu ihnen gehört auch Margarita. Sie verlor ihren Sohn Jose del Carmen vor 24 Jahren durch einen Unfall. Er wurde nur vier Jahre alt. Seitdem verbringt sie jedes Jahr die Nacht vom 1. auf den 2. November an seinem Grab. Dabei hat sie Essen und einen Rekorder mit Kindermusik. Die Eltern früh verstorbener Kinder feiern den 1. November als „Tag der kleinen Engel“ („Dia de los Angelitos“). Der 2. November ist denen gewidmet, die im Erwachsenenalter verstorben sind. Niemand wird an diesen Tagen vergessen.

Die Geister der Verstorbenen antworten

Maria del Carmen hat zehn Söhne. Doch heute ist sie wegen ihrem Vater José Rodolfo da, der vor 28 Jahren verstarb und wegen ihrer vor einem Jahr verstorbenen Mutter. Begleitet wird sie von ihrem Enkel Mario und ihrer Enkelin Gabriella, die der Großmutter helfen, Plastikdeko auf das Grab zu legen und Campingstühle aufzustellen, denn auch sie werden die ganze Nacht bei den Ahnen verbringen. Ein paar Grabreihen weiter verschönern vier Mitglieder der Familie Cervantes Ugalde den Grabstein mit einem Blumenaltar, denn am darauf folgenden Tag ist dann die große Feier. Vom mitgebrachten Kasettenrecorder ertönen lautstark folkloristische Mariachi-Lieder. „Das war die Lieblingsmusik unseres Papas“, erklärt ein Teenager.

Auch die 15 Mitglieder der Familie Almaraz Hernandes finden sich am 2. November in Santa Paula ein. Sie bleiben für drei bis vier Stunden am Grab und sprechen mit den Ahnen. „Wir reden mit ihnen über unsere Probleme und bitten sie um Rat.“ Ein wichtiges Anliegen sei dabei die Erziehung des Sohnes. „Die Geister unserer Verstorbenen antworten, und wir alle können sie hören“, behauptet Maria de Lourdes Cardezo, eine Tante des Familienclans.

Auch Familie Salazar Carillo ist bereits seit sechs Stunden am Mausoleum; die Großmutter Adela Carillo Gonzales sogar noch länger. „Drei Verwandte sind hier begraben“, sagt die 86-Jährige. Ihr ältester Sohn betet. Sie nickt Maria de Lourdes Cardezo nebenan zu. „Wir werden erst mit Einbruch der Nacht mit den Toten reden.“

Gleich daneben trauert Familie Vazquez um drei verstorbene Familienmitglieder. Sie kommen am 2. November immer gemeinsam hier her. „Unter dem Jahr besucht einer von uns wöchentlich das Grab“, betont der Familienvater.

Im hinteren Teil von Santa Paula betet Luiz Francisco Rangel am Grab des Vaters und der Großmutter. „Das hat Tradition“, sagt er und beugt sich hinunter. „Ich komme alle drei bis vier Monate, obwohl ich weiter entfernt in der Stadt Leon wohne. Aber ich bin in Guanajuato geboren und wir haben unser Familiengrab hier.“

Außerhalb, in den Straßen des zentralmexikanischen Städtchens, brodelt das Leben. Eine Prozession zieht mit lauter Musik vorüber, und im ruhigen Innenhof der Universität legt Gwendolyn unzählige bunte und duftende Blüten zu einem fantasievollen Teppich zusammen. Gewidmet ist er dem verstorbenen Rektor der Universität. „Wir machen das jedes Jahr und wollen ihn und das, was er für unser Institut getan hat, ehren.“

Kleine und große Kinder, Mütter und Väter, Arme und Reiche – zum Zeitpunkt des Todes sind sie alle gleich. Nicht nur in Mexiko, sondern auch hier und anderswo. Deshalb ruft „La Catrina“ nicht nur die Lebenden zum Feiern auf, sondern auch die Toten.

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