Überfahren vom Lieferwagen der Hakenkreuz-Wäscherei. So hätte die Schlagzeile lauten können, wenn das Schicksal für Heinrich Böll einen Unfalltod mit ironischer Note vorgesehen hätte. Als Soldat mehrfach verwundet, kurz vor Kriegsende desertiert, und dann wäre ausgerechnet ein Transporter der Wäscherei Swastika Laundry Böll fast zum Verhängnis geworden. Kurz nach seiner Ankunft in Dublin im Jahr 1955 wollte er eilig eine Straße nahe der heutigen Heuston Station überqueren. Beim Anblick des Hakenkreuzes auf dem Wagen, der dicht vor ihm zum Stehen kam, glaubte er im ersten Schreck, beinahe unter die Räder eines ausgemusterten Wagens des Völkischen Beobachters (Hitlers Propagandablatt) geraten zu sein. Die Inhaber der Swastika Laundry hatten sich das indische Glückssymbol jedoch lange vor den Nationalsozialisten als Logo für ihre 1912 gegründete Firma ausgesucht und es damit immerhin zu einer Fußnote in der Literaturgeschichte gebracht, nachzulesen im Irischem Tagebuch.
Mehr als 60 Jahre sind seit der Erstveröffentlichung von Bölls meistgelesenem Werk vergangen, und noch immer geht die Saat der Geschichten über fabulierende Lebenskünstler und mystisch schöne Landschaften im Herzen der Leser als zeitlos blühende Irland-Liebe auf. Mit Bölls Tagebuch als Baedecker-Ersatz reisen viele Deutsche auf die grüne Insel, um den beschriebenen Dreiklang aus Bier, Torf und Frömmigkeit zu suchen, und landen in Dublin zunächst in der St. Patrick's Cathedral.
Zu viel sterile Sauberkeit in der Kathedrale
Dort, wo der überzeugte Katholik Böll auf einen armlosen Bettler traf, dem er die Zigarette „angezündet zwischen die Lippen, Geld in die Rocktaschen stecken“ musste, kassiert heute eine adrette Empfangsdame die Eintrittsgelder. Irlands größte Kirche gehört zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Dublins und ist tatsächlich ein besonderer Ort. Hier soll der heilige Patrick Gläubige mit dem Wasser einer geweihten Quelle getauft haben, und hier liegt auch Jonathan Swift, Schriftsteller und langjähriger Dekan der Kathedrale, gemeinsam mit seiner Gefährtin Ester (Stella) Johnson unter blank geputzten Messingplatten begraben. Für Bölls Empfinden zu blank geputzt. „An Swifts Grab hatte ich mir das Herz erkältet, so sauber war St. Patrick's Cathedral, so menschenleer und so voll patriotischer Marmorfiguren“, beklagte er sich über die fast sterile Sauberkeit.
Gedanken eines Autors, die sechs Jahrzehnte später zum eigenen Gefühl des Wiedererkennens werden, wenn man fröstelnd im porentief reinen Schauraum der Religion steht. St. Patrick ist nicht zum Benutzen da, so scheint es noch immer, sondern zum bloßen Betrachten. Niemand, der niederkniet, betet, sich bekreuzigt. Die glänzend geputzten Requisiten des Glaubens sind da. Die Gläubigen fehlen. Über diesen Mangel täuscht auch die Masse der Touristen nicht hinweg, die zu kleinen Haufen zusammengekehrt um ihre Reiseleiter stehen, in der Souvenirecke stöbern oder achtlos an einer Vitrine vorbeigehen, in der neben Erstausgaben von Swifts Werken auch eine Totenmaske des Schriftstellers präsentiert wird. Deren auffallende Spitznasigkeit lenkt von der eigentlichen Attraktion im Glasschrank ab: ein eiserner Kienspan-Halter. Vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert hinein fertigten Schmiede solche Gestelle an, in die harzreiche Hölzer geklemmt und angezündet werden konnten. Als Lichtquellen waren sie viel billiger als Kerzen und wurde deshalb auch Arme-Leute-Lampen genannt.
Den ausgestellten Kienspan-Halter von St. Patrick sollen einst Jonathan Swift und seine Stella abwechselnd in den Händen gehalten haben, um in der düsteren Kathedrale eng beieinander sitzen und gemeinsam in einem Buch lesen zu können. Vermutlich gab es diese Vitrine in den 1950er Jahren noch nicht, sonst hätte Böll seine verschnupfte Seele sicherlich an dieser Arme-Leute-Lampe gewärmt und sich vielleicht sogar mit der Sterilität der Kirche versöhnt, wenn er von Jonathan Swifts Ruf als pedantischer Reinlichkeitsfanatiker gewusst hätte. Sein für damalige Verhältnisse hohes Alter von 78 Jahren hatte Swift nämlich auch seiner gründlichen Hygiene zu verdanken, die zu seiner Zeit im dirty old Dublin keineswegs selbstverständlich war.
Religion wird bis zur Neige ausgekostet
Auch ohne Kenntnisse von Swifts Körperpflegemaßnahmen fand Böll in einer anderen Dubliner Kirche Trost und vielleicht sogar Heilung für sein erkältetes Herz, als er St. Nicholas of Myra entdeckte. „Schön war St. Patrick, hässlich ist diese Kirche, aber sie wird benutzt“, freute er sich, als er kurz nach dem enttäuschenden Besuch der Kathedrale in ein Gotteshaus voller Gläubiger trat, in der „Religion bis zur Neige ausgekostet“ wurde. Die cremeweiße Eleganz im Inneren von St. Nicholas lässt allerdings an Bölls Gedächtnis zweifeln. Unmöglich, dass Böll keinen Blick für das monumentale Erscheinungsbild der neoklassizistischen Architektur hatte. Schwer vorstellbar, dass er die leuchtend helle Kassettendecke, reich dekoriert mit Gemälden und Ornamenten, tatsächlich hässlich fand. Das von Leonardo da Vincis Abendmahl inspirierte Gipsrelief erwähnt Böll ebenso wenig wie das markanteste Merkmal dieser Kirche – eine marmorne Pieta zwischen den Granitsäulen eines griechischen Tempels, von dem das allsehende Auge Gottes hinunter auf den Hauptaltar schaut. Es gab seit den 1950er Jahren keine großen baulichen Veränderungen mehr, die Bölls völlig anderen Eindruck von St. Nicholas erklären könnten. „Voller Menschen, voller Kitsch war diese Kirche, und sie war nicht gerade schmutzig, aber schusselig; so sehen in kinderreichen Familien die Wohnzimmer aus.“
Die gute Stube irischen Glaubens
Auf St. Nicholas trifft das ganz und gar nicht zu, wohl aber auf die Whitefriar Street Church, die zweite Kirche in der Nähe der Kathedrale. Drinnen wimmelt es von Menschen. Lippen bewegen sich zu leisem Gebet, vor der Statue des heiligen Valentin erbitten Gläubige die große Liebe, in den düsteren Nischen der Seitenaltäre flackern Kerzen, und Münzen fallen klimpernd in den Opferstock. Das ist die gute Stube des irischen Glaubens, wie Böll sie beschrieben hat.
Welche aber war nun seine Lieblingskirche? Die Antwort darauf findet sich im Irischen Tagebuch, von dem es verschiedene Versionen gibt. In einer frühen Fassung der Dublin-Geschichte, abgedruckt in Band 10 der Kölner Ausgabe, nennt Böll das Gotteshaus, das er weit beeindruckender fand als Dublins Kathedrale, beim Namen – St. Nicholas of Myra. Überraschend, aber das gehört wohl zur höheren Wahrheit der böllschen Literatur: Es gibt Kirchen, die erkältete Herzen und schnelles Vergessen produzieren, und es gibt Kirchen, die Vertrautheit, Geborgenheit und Erinnerungen herstellen – welches Gotteshaus welche Gefühle in ihm auslöst, findet jeder Gläubige jedoch für sich selbst heraus.
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