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Ein Fluss, der Leonardo und Sankt Martin verbindet

Gleich einer Perlenkette reihen sich zahllose Schmuckstücke zu beiden Seiten der Loire aneinander. Sie zeugen von menschlichem Geltungsdrang, Lebenslust und tiefer Gottesbeziehung.
Der Garten von Schloss Villandry an der Loire.
Foto: Copyright: xDreamstimexWojtkowsk (www.imago-images.de) | Der wunderschön bepflanzte Schlossgarten von Villandry.

Wer wie wir von Nordosten ins Französische hineinfährt, kann fast nicht anders, als in Reims und Chartres haltzumachen, selbst wenn das geographische Ziel der Reise Hunderte Kilometer entfernt liegt. Gilt die Rede vom Weg als Ziel etwas, dann in solcher Hinsicht. Wir müssen uns diesen Gebirgen aus Stein aussetzen, den Kathedralen beider Orte und der Basilika Saint-Remi.

Während die Reimser Kathedrale umringt steht von Menschenscharen und Baumaschinen an der Fassade rattern, liegt die keine zwei Kilometer entfernte einstige Abteikirche im Stillen. Beide sind im Ersten Weltkrieg von deutschem Beschuss schwer versehrt worden. An Saint-Remi rekonstruierte man 40 Jahre.

Einem der Gebäude den Vorzug zu geben, fällt schwer. Schon im 7. Jahrhundert ist für den Vorgängerbau von Saint-Remi ein Benediktinerkonvent bezeugt. Das Patrozinium ehrt den Franken-Apostel, der im Chor ruht. Mit Karlmann ist ein Bruder Karls des Großen hier bestattet, zudem der Karolinger Ludwig IV., sein Sohn Lothar. 1049 hat Papst Leo IX. die heutige Kirche geweiht. Mit seinen farbigen Fenstern verzückt der frühgotische Umgangschor. Jahrhundertelang wurde in der zur Revolution aufgehobenen Abtei das Öl zur Salbung der Könige aufbewahrt.

Am 7. Mai 1945 unterzeichneten die Deutschen in General Eisenhowers Reimser Hauptquartier die Kapitulation. 1962 trafen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in der Stadt in großer Versöhnungsgeste zusammen, Fotografien in der Kathedrale erinnern daran. Uns geht ein Schauer über den Rücken.

Auch die Kathedrale hat etwas Betörendes. Was ist zu erwähnen? Der überreiche Figurenschmuck innen wie außen, am berühmtesten der lächelnde Engel, Chagalls Fenster, das erste vollentwickelte Maßwerk der Architekturgeschichte, die einstige Domschule, die mit dem Mathematiker Gerbert von Aurillac (später Papst Silvester II.) oder Bruno von Köln große Lehrer gesehen hat. Letztlich indes taugen summarisch vorgetragene Fakten wenig, um die Bedeutung dieser Häuser zu fassen. Entscheidend bleibt, dass sich in ihnen Menschen von Gottes Geist anrühren lassen.

Wir fahren nach Chartres. Beim Eintritt in die Kathedrale kommt uns der Bischof aus der Krypta entgegen, umgeben von einem Kamerateam – wie sich herausstellt: aus Amerika. Der Bildhauer Auguste Rodin hat die Kirche als „Akropolis Frankreichs“ bezeichnet. Von nah und fern strömen Wallfahrer und Touristen ihr zu. Die Amerikaner treffen wir auf dem Vorplatz wieder. Einer nach dem andern sinkt vor dem Bischof auf die Knie und erbittet zum Abschied den Segen. Aus unserer Gruppe sieht es einer, macht drei Sprünge und tut es ihnen gleich. Tage noch wird er davon berichten. Als „Bischof war er immer und zuerst zum Segnen bereit, das war seine eigentliche Funktion“. An Martin Mosebachs Worte aus „Die 21“ denken wir, während es näher hinan geht an die Loire. Mit mehr als 1000 Kilometern ist sie der längste Fluss Frankreichs, der sich vom Zentralmassiv gen Norden wendet und bei Orléans gen Westen, um bei Saint-Nazaire in den Atlantik zu münden. Dazwischen: altes, überreiches Kulturland, an dem uns das sich sanft windende Nass naturbelassen und für Schifffahrt wenig tauglich erscheint, dafür als Paradies für Vögel und Fische.

Als nächstes nehmen wir Quartier in Noizay, umgeben von Wald und Weinreben, zehn Kilometer östlich von Tours. Die einstige Abtei von Frontevraud, Grablege der englischen Könige Richard Löwenherz und seines Vaters, Heinrichs II., dazu der schillernden Mutter und Gattin, Eleonores von Aquitanien, lassen wir beiseite; wir sind schon dort gewesen.

Am Alterssitz von Leonardo da Vinci

Die Schlösser von Chambord, Blois und Amboise mit den vermuteten Gebeinen des Universalgenies Leonardo da Vinci (man weiß es nicht sicher) sind Magnete – daran kommen wir nicht vorüber. Während die Anlage von Blois innen enttäuscht – wenig alte Ausstattung, großer Andrang –, ist der äußere, Stadt und Landschaft prägende Eindruck ein großer. Amboise wartet mit historischem Interieur auf. Das weite Plateau, auf dem der Bau steht, bietet weite Schau über Stadt und Loiretal. Unten, im Ort, steht da Vincis Wohnhaus: Le Clos Lucé. Hier hat der Meister seine letzten Jahre verbracht. Er starb 1519 laut Giorgio Vasari in den Armen des Königs. Der hielt sich seinerzeit allerdings nicht in Amboise auf. Man liest es dennoch gern.

Generationen von Potentaten und Gelehrten haben sich mit Schlössern an der Loire verewigt. Unmöglich, sie selbst in wochenlangen Streifzügen alle zu besichtigen. Wir haben acht Tage. Das über den Cher errichtete Chenonceau muss sein. Gleiches gilt für Villandry und den mit beispiellosem Aufwand gepflegten Schlossgarten. Drei gewaltige Parterres sind es, verbunden mit Treppen und Rampen. Darauf: geometrisch geschnittene Beete voller Ornamente, von Blumen gefüllt, Brunnen, ein barocker Wassergarten, dazu einer für Gemüse, den der spanische Arzt Carvallo, der das Anwesen 1906 erwarb, besonders geschätzt haben soll.

Dann fahren wir nach Azay-le-Rideau. Balzac hat die Anlage im Roman „Die Lilie im Tal“ einen geschliffenen Diamanten geheißen. Nicht wenige halten das von Wasser umgebene Schloss, das nie einem König gehörte, für das schönste der Renaissance in der Region.

Der Sonntag gehört Tours. Die Messe in der Kathedrale voll junger Leute – Zeichen für jene Taufen und Konversionen, von denen aus Frankreich berichtet wird? Auch vor dem Grab von Sankt Martin ähnliche Bilder. Auf den in der Revolution untergegangenen Vorgängerbau, Vorbild für Santiago de Compostela, folgte der heutige in romanisch-byzantinischem Stil, errichtet bis 1902. Für uns Fügung: Knapp 1300 Kilometer von der Heimat steht unverabredet ein Bekannter vor dem Eingang zur Krypta. Der Heilige bleibt Identifikationsfigur. Unzählige Votivtafeln, auch aus Deutschland, künden davon. Wir halten inne.

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Dann geht es über Saumur nach Nantes, in die einstige Hauptstadt der Bretagne: eine quirlige, junge Großstadt, in der die Synthese aus Alt und Neu geglückt zu sein scheint. Der Dom wird saniert, im Zentrum ansonsten ein für Auswärtige kaum durchdringbares Einbahnstraßen- und Baustellengewirr. Am Stadtrand empfängt uns Henri Ducellier auf Château de Thouaré. 1565 hat es König Karl IX. besucht. Die Familie des Philosophen Descartes war mit dem Schloss verbunden. In einem mächtigen Rundturm nehmen wir Wohnung, umgeben von Barockmöbeln und einer ansehnlichen Bibliothek. Monsieur Ducellier, einst erfolgreicher Industriemanager und Besitzer des Schlosses, versieht uns mit Ausflugstipps. Er bereitet das Frühstück zu, empfiehlt die schönste Brasserie Frankreichs. „La Cigale“ (die Grille) mit üppigem Innendekor aus dem Übergang vom Historismus zum Jugendstil sei jedoch nie ein Geheimtipp gewesen. Das Lokal ist zwar abends immerzu ausgebucht, doch der oft früher als Franzosen aufschlagende Deutsche hat einen Vorteil.

Wir machen den unvermeidlichen Abstecher zum Atlantik. Ducellier hatte zwar von La Baule-Escoublac, dem berühmtesten Badeort, abgeraten. Nach dem Krieg hat die historische Substanz in der ersten Reihe Bettenburgen Platz machen müssen. Wir fahren dennoch, da die Wasserqualität stimmt. Andernorts muss man nämlich wegen Bakterienbefalls im Wasser mit Strandsperrungen rechnen.

Das einzig erhaltene karolingische Mosaik

Ist’s am schönsten, soll man weiter. Zwei Orte haben wir 370 Kilometer stromaufwärts bei der Anfahrt beiseitegelassen. Den Anfang macht Germigny-des-Prés. Die äußerlich bescheiden wirkende Kirche scheint nichts mehr zu sein als der Ortsmittelpunkt, schrieb Wilfried Hansmann. Dabei gebühre ihr in der europäischen Architekturgeschichte hoher Rang. Theodulf von Orléans, Kanzler Karls des Großen, Dichter und Bischof, hat den Zentralbau wohl 806 als Privatkapelle geweiht – mit dem einzigen aus karolingischer Zeit erhaltenen Mosaik. Es zeigt die Bundeslade, flankiert von Engeln; die Farben sind kräftig. Theodulfs Villa ging verloren, das Gotteshaus hielt. Stille, die zur Rast einlädt. Das gilt auch für den Nachbarort Saint-Benoît-sur-Loire, in dem sich eine Abtei befindet, der Theodulf vorgestanden hat. Deren Kirche ist ein Meisterwerk der Romanik. Die Mönche aber lagen jahrhundertelang im Streit mit Montecassino: über die Authentizität der am Ort verehrten Gebeine von Ordensvater Benedikt.

Der Autor ist ehemaliger Zeitungsjournalist und betreibt ein Ladengeschäft für alte Bücher und Grafiken in Bautzen.

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