An Algerien gehen die europäischen Touristenströme traditionell vorbei. Dabei ist das Land ein reicher Kulturraum mit überaus zuvorkommenden Menschen. Leichte Bedenken, die ich im Vorfeld der Reise in die großen Städte im Norden Algeriens getragen hatte, sollten sich ganz schnell zerstreuen: Algier wirkt sicher, als Fremder kann ich mich unverkrampft bewegen, ja, fühle mich in der quirligen arabisch-mediterranen Atmosphäre sogar ausgesprochen wohl.
Außer bekannteren Sehenswürdigkeiten wie dem Gassengewirr der verwunschen wirkenden Kasbah, der Basilika Notre Dame d’Afrique oder dem Denkmal der Märtyrer ist es ein unscheinbarer Ort, der mich sehr bewegt: Zwischen der Haupteinkaufsmeile und dem Bahnhof Agha befinden sich in einer Nebenstraße die Räumlichkeiten der 1936 gegründeten Leihbuchhandlung „Les Vraies Richesses“, zu Deutsch „Die wahren Schätze“, mit der auch ein Verlag verbunden war. Hier hat ihr Gründer Edmond Charlot Schriftsteller seiner Zeit um sich versammelt und gefördert: Albert Camus gehörte zu ihnen ebenso wie André Gide, Jules Roy ebenso wie Antoine de Saint-Exupéry und noch eine ganze Reihe anderer. Mitte der 90er-Jahre wandelte die Stadtbibliothek die kleinen Räume in eine ihrer Zweigstellen um - und betreibt sie bis heute. Großformatige Porträts der Literaten aus jener Zeit Mitte des 20. Jahrhunderts hängen von der Decke und machen Besucher darauf aufmerksam, dass dieser stille Ort eine ganz besondere Geschichte hat.
Zurückhaltend und dennoch offen
Als außerordentlich angenehm empfinde ich die zurückhaltende und dennoch offene Art der Einheimischen. Weit entfernt von der aufdringlichen Geschäftemacherei, wie sie etwa in Marokko gepflegt wird, verhalten sich die Menschen dem Fremden gegenüber dezent, sind aber in der Regel auch schnell bereit, in ein Gespräch einzutreten und ihre Hilfe anzubieten, sofern sich ein Anknüpfungspunkt dafür ergibt. Diese Eindrücke aus Algier sollten sich meine gesamte Algerienreise über bestätigen.
Ein Ausflug in die alten Römerstädte Cherchell und Tipasa an der Seite meines Guides Mohammed Bouzidi, etwa anderthalb Autostunden von der Hauptstadt entfernt, lässt mich den Zauber der Mittelmeerküste genießen - und verstärkt erheblich mein Bewusstsein dafür, dass Teile von Nordafrika in der Antike selbstverständlich zur römischen Welt gehörten, der Mittelmeerraum also nicht wie heute geteilt war. In Tipasa haben Archäologen an einem zerklüfteten Küstenabschnitt eine weitläufige römische Stadt ausgegraben, UNESCO-Weltkulturerbe, das immer noch plastische Eindrücke vom dortigen Leben ab dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert vermittelt - davon zeugen die Ruinen von Befestigungsanlagen und Tempeln bis hin zu den Thermen und einem Theater. Sogar Relikte von christlichen Kirchen aus späterer Zeit lassen sich besichtigen. Auf dem Platz der Nekropole soll, so weiß jedenfalls Mohammed, Albert Camus mit Vorliebe gesessen und geschrieben haben. Die Museen in Cherchell zeigen imposante römische Kunst, die mir der Fachmann an meiner Seite kundig erläutert.
Auch wenn Algerien nicht sehr auf Tourismus ausgerichtet ist, so war die praktische Organisation der Reise dennoch kein Problem. Fast alle Hotels bieten stabiles Internet an und die meisten Anbieter sind im Netz präsent. Zwar habe ich meine Hotels und Inlandsflüge bereits von Deutschland aus gebucht, aber es war auch unkompliziert, kurzfristig eine Tagestour zu arrangieren. Französischkenntnisse sind dabei hilfreich, aber nicht unabdingbar, denn mehr und mehr Menschen, vor allem Jüngere, sprechen Englisch.
Einen völlig anderen Eindruck als Algier vermittelt Constantine, die drittgrößte Stadt des Landes, die einst die Phönizier gegründet und die Römer später Cirta genannt haben. Ihre Altstadt ruht auf einem Felsen, an dessen Grund sich das Flüsschen Rhumel durch eine bis zu 100 Meter tiefe Schlucht schlängelt. Bemerkenswert sind die kunstfertigen Brücken, die die Tiefe überspannen und atemberaubende Ausblicke bieten. Eine besonders schöne Stelle, um die Augen über die Altstadt, die Schlucht und das Umland schweifen zu lassen, ist die Anhöhe mit dem Monument aux Morts, dem Denkmal für die Toten, jenseits der Brücke Sidi M’Cid. Weitere anregende Orte in Constantine sind beispielsweise das Archäologische Museum mit Mosaiken aus römischer Zeit sowie Gemälden und Skulpturen, deren Entstehung bis in die Gegenwart reicht, dazu der liebevoll hergerichtete Palast des türkischen Bey, der die Annehmlichkeiten türkischer Herrscher erahnen lässt. Erschöpft von all den Besichtigungen suche ich am Abend einen Hamam auf und gebe mich einer sehr wohltuenden orientalischen Form der Entspannung hin - nebenbei wieder ein guter Ort, um mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen.
Auf dem Gebiet des heutigen Annaba ganz im Osten Algeriens liegen die Ausgrabungen der in der Antike bedeutenden Stadt Hippo Regius. Hier bekleidete der Kirchenvater Augustinus von etwa 395 bis zu seinem Tod im Jahre 430 das Amt des Bischofs, hier verfasste er seine wichtigsten Werke und wurde zu einer der geistigen Größen seiner Zeit. Sehenswert ist die auf einer Anhöhe thronende neue Augustinusbasilika, die 1900 eingeweiht und vor wenigen Jahren gründlich saniert wurde. Das Gotteshaus verfügt in seinem Innern über eine prächtige Ausstattung mit Marmor aus Carrara, einer Kassettendecke aus Holz und kunstvollen, farbigen Fenstern.
Nur noch amorphe Reste
Auf dem Ausgrabungsfeld lassen sich die Ruinen der Bischofskirche aus der Spätantike schnell identifizieren. Von Augustins Palast nebenan sind nur noch amorphe Reste übrig geblieben, aber die Grundmauern der einst dreischiffigen Kirche stehen nach wie vor oder wurden teilweise wieder ergänzt. Omar, ein Mitarbeiter des benachbarten Museums, weist mich darauf hin, dass die Akustik im Chor noch funktioniert, auch wenn die Mauern nicht mehr als einen halben Meter hoch sind. Tatsächlich - stellt man sich vor dem ehemaligen Altar auf, so wird die eigene Stimme verstärkt und hallt nach, als ob man sich in einem geschlossenen Raum aufhielte. Am Rande des Geländes befinden sich die Überbleibsel römischer Villen mit einer Bootsanlegestelle. Bis hierher, wie Omar erläutert, reichte in früher Zeit das Mittelmeer, dessen Küste heute etwa zwei Kilometer entfernt verläuft.
Die Schilderungen, die Camus von Oran in Nordwestalgerien, dem Schauplatz seines Romans „Die Pest“, als reiz- und gesichtsloser Stadt gibt, und die wenig enthusiastischen Passagen im Reiseführer haben meine Erwartungen gedämpft. Umso überraschter bin ich, dass Oran trotz seiner Modernität Charme ausstrahlt, die Uferpromenade bemerkenswerte Ausblicke bietet und auch viele Straßenzüge der Altstadt von schönen Häusern gesäumt sind. Besonders haben es mir die beiden Festungsanlagen angetan: Der Komplex rund um die Festung Rozalcázar spiegelt die bewegte Geschichte der Region wider: In der Anlage finden sich spanische Gefängniszellen und Pferdeställe, Militärräume der Franzosen und ein vernachlässigter, aber in seiner Substanz eindrucksvoller Palast des osmanischen Bey. Anscheinend fehlt es an Geld oder Interesse oder beidem, dieses entzückende Kleinod zu restaurieren.
Auf dem Weg hinauf zu der berühmteren Festung Santa Cruz aus spanischer Zeit sitze ich im Wagen des Taxifahrers Mohammed Kadri, während er mir seine Geschichte erzählt. Bis vor einigen Jahren hat er als Mehrzwecktechniker in einem führenden Energieunternehmen gearbeitet, fährt nun aber Taxi, damit er bei Bedarf schnell bei seinen beiden mittlerweile erwachsenen autistischen Kindern sein kann. Hätte es unmittelbar nach dem Bürgerkrieg, der 2002 endete, im Land bessere Betreuungsmöglichkeiten für behinderte Kinder gegeben, hätte, wie Mohammed vermutet, gezielte Hilfe den beiden pflegebedürftigen seiner drei Kinder möglicherweise ein leichteres Leben eröffnen können. Gemeinsam besuchen wir an jenem Nachmittag das Fort Santa Cruz aus dem frühen 18. Jahrhundert wie auch die gleichnamige Basilika von Mitte des 20. unterhalb des Forts und erfreuen uns an dem unfassbar weiten Blick über Stadt und Umgebung.
Tlemcen, Afrikas Granada, vom 13. bis 16. Jahrhundert bedeutendes Zentrum für islamische Kunst, Kultur und Wissenschaft, ist die letzte Station auf meiner Reise, rund 140 Kilometer südwestlich von Oran gelegen. In der uralten und prächtigen großen Moschee lerne ich Ali Rahoui und Yakoub Bellakhdar kennen. Die beiden jungen Männer können sich an jenem Samstag Zeit nehmen, zeigen mir bedeutende Orte der Stadt, was nicht nur an einem solch verregneten Tag ein echter Glücksfall ist. Dazu gehört der Méchouar-Palast, dessen älteste Bausubstanz aus dem 13. Jahrhundert stammt, mit Zitadelle und einem Museum für Trachten. Die Grabmoschee für den Sufiheiligen Bou Medine, zugleich der Schutzpatron der Stadt, aus dem 14. Jahrhundert ist stark von der islamischen Baukunst Spaniens beeinflusst und vermag den Besucher mit ihrer Ornamentik zu beeindrucken.
Der Autor ist promovierter Historiker und arbeitet als freier Lektor.
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