Wurde zu spät gewarnt vor der Jahrhundertflut, die allein im Ahrtal mindestens 135 Menschenleben gekostet hat, die 53 immer noch Vermissten nicht mitgerechnet? Gab es Hinweise, die eine frühe Evakuierung an der Ahr möglich gemacht hätten, die zwar nicht die milliardenteuren Schäden verhindert, wohl aber viele Menschenleben retten hätte können? Als Antwort in den Medien scheint sich immer mehr herauszukristallisieren: Ja. Es gab wohl eklatante Fehleinschätzungen und Versäumnisse. Ob die dazu besonders in den sozialen Medien mit dem üblichen Brustton der Empörung und der Forderung nach schwersten Strafen geführten Debatten die Gefühle der Betroffenen spiegeln, darf jedoch bezweifelt werden.
Wer Mann, Frau, Kind, Großeltern, Schwager und Schwägerinnen in der Flut verloren hat oder immer noch vermisst, beschäftigt sich noch nicht mit möglichen Schuldfragen. Das Entsetzliche ist geschehen. Die Überlebenden müssen weiterleben. Irgendwie. Auch wem Haus und Hof in nur einer Nacht verloren gegangen sind, hat zunächst einmal andere Probleme. Jetzt fallen die Entscheidungen, ob das Haus abgerissen werden muss oder wenigstens kernsaniert werden kann. Ob überhaupt wieder an dieser Stelle neu gebaut werden kann. Ob die Versicherung bezahlt. Oder ob man ganz von vorn beginnen muss, wo auch immer, wie auch immer. Und in wessen Keller, Haus oder Wohnung immer noch der nach Öl und Fäkalien stinkende Schlamm steht, braucht vor allem helfende Hände.
Viele freiwillige Helfer
Tausende von Freiwilligen reisen nach wie vor täglich aus ganz Deutschland an, um anzupacken, Schlamm zu schippen, zu kärchern sowie Müll und Schutt wegzubaggern, der sich in riesigen Bergen überall auftürmt. Eine unfassbare Hilfsbereitschaft, die aber auch nötig ist. Der Müll stellt neben dem kontaminierten Schlamm, der nun auch in Staubform derart penetrant in der Luft liegt, dass fast alle ganz freiwillig Gesichtsmasken tragen, eines der größten Probleme dar: Seuchengefahr. Da alle Kliniken ebenso wie ein Großteil der Arztpraxen des Ahrtals durch die Flut zerstört oder unbrauchbar wurden, gibt es an einigen Stellen mobile Ärzteteams, die Verletzte versorgen, Wunden desinfizieren, Medikamente ausgeben und vor allem impfen: Nicht allein Corona steht dabei im Vordergrund, sondern insbesondere Tetanus, Typhus, Diphtherie und Cholera. Erst seit wenigen Tagen ist wieder an den meisten Orten Leitungswasser verfügbar.
Per Megaphon wird aber mehrmals täglich davor gewarnt, dieses Wasser unabgekocht zur Speisezubereitung, zum Geschirrspülen, Zähneputzen oder gar Trinken zu benutzen. Trinkwasser wird inzwischen in großen Kanistern an Sammelstellen ausgegeben. Immerhin muss nicht mehr auch das Brauchwasser an oft allzu weit entfernten Orten abgeholt werden. Warmwasser haben noch die wenigsten. Und noch lange nicht alle Menschen haben Strom. In jeder Straße hört man das Tuckern von Benzingeneratoren. Ganze Hundertschaften von Elektrikern, auch diese viele Freiwillige aus der ganzen Bundesrepublik, helfen dabei, die Stromversorgung wiederherzustellen. Wer nach zwei Wochen Dunkelheit endlich wieder Licht in der Wohnung und Strom aus der Steckdose hat, fühlt dieselbe tiefe Dankbarkeit wie in dem Moment, als die Toilettenspülung endlich wieder funktionierte: „Wir haben vieles viel zu selbstverständlich genommen“, sagen sich die Menschen immer wieder gegenseitig.
Zerstörte Infrastruktur, schwierige Versorgung
Bei völlig zerstörter Infrastruktur ist auch die Versorgung ein großes Problem: 68 Brücken sind im Ahrtal völlig zerstört worden. Viele Straßen sind unbefahrbar und große Umwege erforderlich, um in manche Ortschaften und Stadtviertel zu gelangen. Einkaufen gehen oder fahren ist für die allermeisten unmöglich. Der verbliebenen, belieferbaren Geschäfte sind sehr wenige. Viele Tausende haben gar kein Auto mehr, um sich weiter weg zu versorgen. Die Bahnlinie ist auf ganzer Strecke völlig zerstört. Zudem sind die Straßen noch für den Individualverkehr gesperrt. Die Bevölkerung war, insbesondere in den ersten beiden Wochen, nahezu vollkommen auf Hilfslieferungen angewiesen. Hier gab es sogar von Bürgermeistern Kritik am örtlichen Krisenstab des Katastrophenschutzes, der eine garantierte Beköstigung der Menschen ebenso versäumt habe wie die Koordination der Hilfskräfte.
Zu den vielerorts eingerichteten, improvisierten und sämtlich in Privatinitiative eröffneten „Märkten“ in Bürgerhäusern, Garagen und Kirchen, in denen das Nötigste aus Spenden angeboten wird, rollen täglich Kleinbusse an, um die Sachspenden aus dem ganzen Land abzuliefern: Brot, Zucker, Instantkaffee, haltbare Milch, Müsliriegel, Babyprodukte, Hygieneartikel, Decken, Kissen, Handtücher, Bettwäsche, Kochtöpfe und hunderte, tausende Liter von Trinkwasser. Wie sehr die Spender mit den Opfern denken, erkennt man vielfach an den wirklich intelligent ausgesuchten Sachspenden: Taschenlampen, Gummistiefel, Schaufeln, Gaskocher, kleine Grills, Arbeitshandschuhe, Arbeitshosen. Kleiderspenden werden an den meisten Orten im Katastrophengebiet nicht mehr angenommen: In den ersten Tagen nach der Flut rollten ganze Hallen voll Kleidung an, so dass die Lagerkapazitäten längst erschöpft sind.
Menschenwürde und Autonomie stärken
Wer bei dieser Gelegenheit seine abgelegte Wintergarderobe „für die armen Menschen“ entsorgt, sollte zudem bedenken, dass die obdachlos gewordenen Menschen in Gästezimmern von Verwandten, in kleinen Ferienappartements oder Hotelzimmern untergekommen sind: Für einen noch so schönen Wintermantel ist da, zumal im Hochsommer, kein Platz, ebenso wie für das schönste Cocktailkleid oder die goldenen Riemchensandalen. Um so geeigneter sind wirklich sinnvolle Sachspendenaktionen: Die junge Frau, die mit vielen Unterstützerinnen eine private Spendensammlung für neu gekaufte Unterwäsche startete, zauberte vielen Menschen, zumal Frauen selbst in großer Not ein Lächeln auf die Lippen. Dass sehr viele von denen, die alles verloren haben, höchstens noch einen Satz Unterwäsche besaßen, den nämlich, den sie am Leibe trugen in der Schicksalsnacht, daran hatte kaum jemand gedacht.
Dass die Aktion „Spendenbox für Unterbux“ ausschließlich neue und keine Second-Hand Dessous zu den Sammelpunkten liefert, sehen die Spenderinnen als Sache der Menschenwürde an. Oder die jungen Leute, die aus Emden durch halb Deutschland reisen, um gebrauchte Fahrräder ins Flutgebiet zu bringen: Bei wenigen intakten sowie stets von Hilfsfahrzeugen verstopften Straßen ein unschätzbarer Wert zur täglichen Fortbewegung, um mal von hier nach da zu kommen. Menschenwürde und Autonomie werden in diesen und vielen anderen Spendenbeispielen gestärkt in einer Zeit des hilflosen Ausgeliefertseins an die Kräfte der Natur, an ein willkürlich erscheinendes Schicksal und an den guten Willen helfender Menschen. Zu den besonders hilfreichen Spenden müssen daher unbedingt auch die Geldspenden gezählt werden: Davon erhalten Opfer unbürokratisch und schnell die nötige Soforthilfe, ohne die sie sich oft nicht einmal eine neue Wohnung mieten könnten.
Individuelle Soforthilfen
Sowohl der Malteser Hilfsdienst, der als Hilfsorganisation einen Teil der Spenden der „Aktion Deutschland hilft“ verwaltet, hat bereits monetäre, individuelle Soforthilfen eingeleitet, als auch Spenden, die an Aktionen direkt vor Ort gehen, kommen tatsächlich da an, wo der Spender sie haben möchte: Bei denen, die es jetzt am nötigsten brauchen. Besonders wichtig im Zusammenhang mit der Menschenwürde im Katastrophenfall sind all jene privaten Initiativen, die warme Mahlzeiten in der nahezu völlig zerstörten Region gratis verteilen und anbieten: Sei es die mobile Frittenbude, die mitten in der Schuttwüste Currywurst und Pommes frites anbietet, die Gemeinschaften, die auf Gaskochern und Grills Spaghetti und warme Eintöpfe bereiten und ausgeben oder Pizza backen: Hier treffen die schwer Getroffenen und die zahlreichen Helfer zusammen und unterbrechen ihre so anstrengende und traurige Arbeit für ein gemeinsames Essen.
Wo ist Gott?
Das in der Kirche recht überstrapazierte Wort „Geschwisterlichkeit“ wird hier einmal ganz real: Wir gehören zusammen. Unvergesslich wohl, von der Notküche des berühmten doppelten Sternekochs auf Bierbänken mit Rindersteaks, knusprigen Bratkartoffeln und Tomatensalat bekocht zu werden. Alles ist gratis auch im Sternerestaurant der Krise. Es wird darauf geachtet, dass auch die zahlreich helfenden Muslime unbeschwert und bedenkenlos mitessen können: Kein Schweinefleisch. Ein guter Nachtisch dazu und für alle, die kein Flaschenwasser mehr sehen können – Rhabarberschorle. Mitten in der Not kommt da plötzlich sogar eine Art Hochstimmung auf. Ein Hort der Freude und der Zusammengehörigkeit in verwüsteter Umgebung. Ein kleines Stück Himmel im Chaos.
Und wo ist Gott in dieser Zeit an diesem Ort? In den vielen, die da sind, die anpacken, in den „Helfer-Engeln“, wie sie genannt werden. Aber auch in den Betern. Die Macht des Gebets, so sagt es auch der Ahrweiler Pfarrer Meyrer, wird deutlich spürbar auch bei denen, die gerade nicht mehr beten können: „Wir bekommen langsam wieder Boden unter die Füße.“ In der Erfahrung des Weitermachenkönnens, wo die Überanstrengung es eigentlich nicht mehr zulässt. Auch in einigen der Flutgeschichten: Der Feuerwehrmann, der an ein steinernes Friedhofskreuz geklammert die Flut überlebte; die vielen Wunder von Rettung aus höchster Not und scheinbar ohne Ausweg. Gott ist aber auch in den vielen Seelsorgern, die in den Straßen und bei den Menschen sind: Oft werden sie angesprochen: „Segnen Sie uns“, oder „bitte beten Sie für uns“. Zum Seelsorger wird in diesen Tagen auch manch einer, der keine Ausbildung dafür hat: Einfach, indem er oder sie zuhört.
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