Kann die Bibel irren?

Die Oxyrhynchus-Papyri bleiben der bis heute umfangreichste Fund an frühchristlichen Manuskripten.
Die Oxyrhynchus-Papyri sind nach einem rüsselartigen Fisch benannt,
Foto: IN | Die Oxyrhynchus-Papyri sind nach einem rüsselartigen Fisch benannt, der in afrikanischen Süßwasserseen und Flüssen schwimmt. Hier eine Bronzefigur aus der spätptolemäischen Zeit.

Kann die Bibel irren? Existieren womöglich jenseits von Gottes geoffenbartem Wort beweisbare naturwissenschaftliche Wahrheiten, die der Heiligen Schrift widersprechen? Das Christentum, ein bloßer Mythos? Diese Fragen trieben das 19. Jahrhundert in zunehmendem Maße um. Nicht erst Darwins „Entstehung der Arten“ raubte dem Menschen den Platz als Krone der Schöpfung und hängte ihn deutlich tiefer in die schnöde Reihe der trockennasigen Altweltprimaten. Spätestens seit Napoleons Ägyptenabenteuer nagte immer öfter der Zweifel an der Verlässlichkeit etwa der mosaischen Geschichte von der Schöpfung, deren Datum der fromme irische Bischof Ussher durch Addition der biblischen Ahnenreihen und Patriarchenviten auf den Vorabend des 23. Oktober 4004 vor Christus berechnet hatte. Eine große Erschütterung war auch die zwei Jahre nach Darwins revolutionärer Evolutionstheorie erfolgte Veröffentlichung des im Katharinenkloster gefundenen „Codex Sinaiticus“, der wohl ältesten und umfassendsten Quelle zum Neuen Testament. Das beunruhigende Problem daran: In den Evangelientexten finden sich mehr als 35 000 Korrekturen. Die meisten sind unbedeutend, einige aber auch dramatisch, etwa wenn einer der antiken Bibelgelehrten das am Kreuz gesprochene Erlöserwort „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ als „zweifelhaft“ markiert. Auch später als apokryph verworfene Schriften sind Teil dieser Heiligen Schrift und das Markusevangelium endet mit 16.8. – das heute bekannte Ende fehlt.

Mit der 1872 gelungenen Übersetzung des Gilgamesch-Epos hieß es endgültig „Land unter“, als sich herausstellte, dass auf der Arche statt Noah schon ein Altbabylonier namens Uta-Napischti das Steuerruder in der Hand gehalten hatte. Nach der darwinschen Entzauberung der Schöpfung war nun auch die Bibel als im Wortlaut von Gott selbst geoffenbartes Wort nicht mehr zu halten. Gleichzeitig aber entbrannte auch die europäische Neugierde auf die orientalischen Wurzeln der Schriftkultur des christlichen Abendlands. Wiederum rückte Ägypten ins Zentrum des Interesses. Die Leidenschaft war dabei nicht nur Gelehrten vorbehalten, auch Laien begeisterten sich für die Grundlagen ihres Glaubens. Unermüdlich warb etwa die Reiseschriftstellerin Amelia Edwards um Sponsoren für ihren Egypt Exploration Fund. Mit der Ausgrabung der Fundamente des biblischen Pitom wollte sie auch die Bibel archäologisch untermauern. Doch das formal noch zum schwächelnden Osmanischen Reich zählende Land lag wirtschaftlich darnieder, der staatliche Altertümerdienst war zahlungsunfähig, die antiken Stätten drohten zu verwahrlosen oder – schlimmer noch – Raubgräbern zum Opfer zu fallen. Unersetzliche Kunstwerke verschwanden in den 1870er Jahren auf dem Grauen Markt. Selbst einzigartige Klosterschätze wanderten ins Feuer, um manch frierenden Mönch zu wärmen. Die Not der Ägypter aber begünstigte wiederum das Klima für die westliche Entdeckerneugier, versprach doch das antikenbegeisterte Engagement der Europäer der verarmten Bevölkerung willkommene Arbeitsplätze.

Finanziert vom Egypt Exploration Fund reisten 1896 zwei junge Forscher in das Land am Nil. Bernard Pyne Grenfell und Arthur Surridge Hunt hatten sich am Queen's College in Oxford kennengelernt und sich auf das Studium ägyptischer Papyri spezialisiert – aus den in Streifen geschnittenen Stengeln der Papyruspflanze geklebte Schriftträger; für die Antike so wichtig wie für uns das Papier. Die beiden Papyrologen hatten eine Grabungslizenz für das 160 km südlich von Kairo gelegene Dorf Al Bahnasa erworben, das antike Oxyrhynchus. Zur Pharaonenzeit war die an den Ausläufern der libyschen Wüste gelegene Ortschaft unbedeutend gewesen. Erst die von den griechischen Ptolemäern gegründete Nachfolgersiedlung stieg als wichtiger Verwaltungssitz zur drittgrößten Stadt des hellenistischen Ägypten auf. Oxyrhynchon Polis, die „Stadt der spitzen Nasen“, wurde nach einem heiligen Tier benannt, dem spitznasigen Nilhecht. Es gab ein Theater für 11 000 Zuschauer, ein Hippodrom, vier öffentliche Bäder und ein Gymnasion. Unter den Byzantinern wurde die Metropole Bischofssitz. Als Zentrum lesefreudiger Gelehrsamkeit war Oxyrhynchus nie bekannt, doch in koptischer Zeit blühte hier ein reiches Klosterleben, von dem sich Grenfell und Hunt wertvolle schriftliche Hinterlassenschaften erhofften; auch, weil die am Rande des Niltals gelegene Stadt von den jährlichen Hochwassern nicht betroffen und das trockene Klima für die Erhaltung von Papyri somit besonders günstig war. Von den antiken Bauwerken waren am Ende des 19. Jahrhunderts noch reiche Zeugnisse vorhanden, lange Säulenreihen und mächtige Mauerzüge, zwischen denen sich die heruntergekommenen Hütten der Bewohner duckten; die zuvor blühende Stadt war nach der arabischen Eroberung rasch verfallen und nur noch spärlich besiedelt. Zunächst machten sich die Forscher an die Ausgrabung eines Friedhofs. Nach drei enttäuschenden Grabungswochen konzentrierten sie ihr Interesse auf die außerhalb gelegenen niedrigen Hügel, wo Myriaden von Keramikscherben lagerten. „Mein erster Eindruck war nicht sehr vielversprechend; es waren Müllhaufen, nichts als Müllhaufen“, erinnerte sich Grenfell. Bald aber bemerkten die Wissenschaftler, dass im Abfall auch unzählige Schnipsel lagen; Fetzen, Bruchstücke, Partikel von Papyrusblättern und darauf: griechische Buchstaben. Schon wenige Tage später, am 11. Januar 1897, landeten die beiden einen Volltreffer. Auf einem Zettelchen von etwa 10 x 15 cm, ließ sich „LEGE IESOU“ entziffern: „Jesus sprach“. Die Forscher hielten eine Sammlung unbekannter Jesusworte in Händen, später als Teil des apokryphen Thomasevangeliums identifiziert.

Das nächste Blatt waren Kapitel aus dem Evangelium nach Matthäus. Bekanntes und Ungeahntes aus Heiligem und Profanem fand sich auf der antiken Mülldeponie; auch verloren geglaubte Werke der Weltliteratur. Das Who is Who der entsorgten Autoren reicht von A wie Aischylos bis X wie Xenophon. Die Mehrzahl aber sind Verwaltungsakten, Steuerunterlagen, Abrechnungen, Quittungen, Protokolle, Ergebnisse von Volkszählungen, Essenseinladungen und private Briefe; ein Querschnitt durch das soziale Leben einer antiken Stadt – zudem oft mehrfach beschrieben, denn Papyrus war teuer. Auf der Rückseite eines offiziellen, in Kanzleischrift verfassten Dokuments können sich Zeilen aus Homers Ilias befinden – zu Übungszwecken gekritzelt in der ungelenken Handschrift eines Schulkindes.

Auf einer Getreiderechnung etwa fand sich das älteste bekannte Kirchenlied, ein Hymnus zu Ehren der Heiligen Dreifaltigkeit vom Ende des 3. Jahrhunderts, inklusive Noten und Aufführungshinweisen. 400 000 Papyrus-Fragmente retteten Grenfell und Hunt aus dem Wüstensand nach England. Trotz stetig verbesserter technischer Hilfen ist bis heute erst ein Prozent davon entziffert. Die Oxyrhynchus-Papyri bleiben der bis heute umfangreichste Fund an frühchristlichen Manuskripten – ein Schatz aus dem Schmutz, der noch lange nicht gehoben ist...

 
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