Wenige Kilometer von unserem Ferienhaus entfernt liegt der Pfarrhof von Vederso. Hier wurde Dänemarks berühmtester Priester Kaj Munk (1898-1944) am 4. Januar 1944 verhaftet und erschossen. Ob von deutschen Soldaten oder dänischen Kollaborateuren blieb umstritten. Die Mehrheit der Dänen kollaborierte mit den deutschen Besatzern und errichtete gegen Bezahlung jene Bunkeranlagen, die noch heute am Strand der Westküste zu sehen sind. Auch Männer aus Kaj Munks Gemeinde standen in deutschem Sold. Munk las ihnen die Leviten.
Der Danebrog, die dänische Nationalfahne mit dem weißen Kreuz, fiel einst in der Stunde der Bedrängnis vom Himmel. Da wendete sich das Blatt. So erzählt es die Legende. Im Zeichen von Nation und Kreuz würde sich das Schicksal Dänemarks auch nach der Besetzung durch deutsche Truppen (9. April 1940) wenden. Kaj Munk glaubte an das Wunder und beschwor auf der Kanzel den Heldenmut des alten Dänemark. Die Regierung unter König Christian X. suchte dagegen den Ausgleich mit den Besatzern. Diese gewährten dem „germanischen Brudervolk“ der Dänen die territoriale und staatliche Integrität. Deutschland brauchte Jütland als Basis zur Versorgung der kämpfenden Truppen in Norwegen und zur Abwehr alliierter Angriffe aus dem Westen.
Kaj Munk stammte aus Maribo (Lolland). Mit fünf Jahren wurde er Vollwaise und wuchs in der Pflegefamilie von Peter und Marie Munk auf. Ihren Familiennamen trug er fortan. Marie Munk lehrte ihn ein Abendgebet:
„Gut Nacht, Vater, gut Nacht, Mutter, gut Nacht, Gott und Jesus und ihr kleinen, heiligen Engel!“
Die Toten sind nicht tot. Das war die Gebetserfahrung des Kindes. Sie leben in Gott. Dieses Vertrauen wird für den Dichter, Priester und Märtyrer zu einer Lebensmelodie, die niemals rein erklingt, sondern nur in spannungsreicher Instrumentalisierung.
Unter den evangelischen Pfarrern gab es seit Luther und Paul Gerhardt viele Dichter und Schriftsteller. Kaj Munk gehörte zu den letzten seiner Art. Er war ein schwieriger Mensch mit sprunghaftem Charakter, mal von einer übernervösen Empfänglichkeit für Schwingungen, mal schroff abweisend, mal höflich, mal aufdringlich. Eine Mimose und dann wieder voller Helden- und Märtyrermut. Auf seine Gemeinde wirkte er unausgeglichen. Er polarisierte. Als junger Pfarrer bewunderte er Hitler und Mussolini. Er war Monarchist und dänischer Nationalist, sehr überzeugt von sich selbst und seiner Berufung als Dichter. Er war Pfarrer der dänischen Staatskirche, aber er benahm sich nicht wie ein Pfarrer. Das Antithetische in seinem Charakter wurde ihm zu einer Quelle der Inspiration.
Die kleine Gemeinde von Vederso mit ihren 300 Seelen suchte seit vier Jahren einen Pfarrer, als sich Kaj Munk im Dezember 1923 um die Stelle bewarb. Er hatte noch keine Examina abgelegt. Schon in seiner Bewerbungspredigt vom Neujahrstag 1924 spielte Munk gegenüber den Bauern und Fischern von Vederso mit offenen Karten. Gewiss war er wie Hans Christian Andersen ein etwas skurriler Bursche, doch was er sagte, war authentisch und seine Predigt war ohne pastorales Gehabe. Der junge Geistliche sprach über alte Menschen, die sich einsam und nicht mehr gebraucht fühlen. Er malte ein Bild schlafloser Nächte und der Altersdepression. Doch auf diesem Hintergrund schreibt Kaj Munk dem Herbst des Lebens eine eigene Würde und eine neue Möglichkeit der Gotteserfahrung zu, vermeidet aber die Plattitüden pastoraler Belehrung, die immer schon weiß, was andere glauben sollen.
Als Kaj Munk in Vederso seine erste Stelle antrat, nahm er einige blaue Anemonen aus seiner Heimat mit und pflanzte sie in seinen Pfarrgarten. Eine Blume Westjütlands entdeckte der junge Pfarrer unter den ersten Konfirmanden, die er in Vederso unterrichtete. Lise Marie Jorgensen (1909-1998), die vierzehnjährige Tochter eines Großbauern aus Vederso. Dass sich evangelische Pastoren in Konfirmandinnen verlieben, hat Tradition wie die Beziehung zwischen Dietrich Bonhoeffer und der 18 Jahre jüngeren Maria von Wedemeyer zeigt. Lise Marie Jorgensen war nur elf Jahre jünger als ihr Pfarrer, aber mit 14 Jahren nach westlicher Vorstellung noch entschieden zu jung für eine Eheschließung. Munk kannte den Orient aus der Literatur und sollte später Palästina bereisen, aber orientalische Verhältnisse an Dänemarks Westküste sind auch heute nicht erwünscht. Vier Jahre warteten Kaj Munk und Lise Marie Jorgensen, bis die ehemalige Konfirmandin das 18. Lebensjahr erreicht hatte. Dann heirateten sie und bekamen im Laufe der Jahre fünf Kinder: Yrsa, Helge, Arne, Solveig und Mogens. Die Photos zeigen eine glückliche Familie. Kaj Munk war ein Vater, mit dem Kinder herumalbern konnten. Er war präsent, wenn er nicht in seiner Klause unter dem Dach schrieb. Aber wann schrieb Kaj Munk nicht?
Munk wurde als Bühnenautor rasch im ganzen Land berühmt. Er schrieb viele Artikel zu allen nur denkbaren Themen, und er schrieb rasch: Ein Drama in wenigen Wochen, zwei Artikel am Tag, wenn es sein musste. Dennoch hatte er Zeit für sein Hobby - die Jagd. Neben dem Talar hing sein Jagdrock, neben der Bibel lag die Flinte. Kaj Munk war kein Pazifist, und er glaubte Jesus an seiner Seite, wenn er von den Widersachern des Reiches predigte, denen ewige Finsternis, Heulen und Zähneklappern beschieden sei.
Der Pfarrer von Vederso war ein Mann, an dem sich seine Gemeinde und ganz Dänemark reiben konnte. Was er am Sonntag den Bauern der Westküste predigte, konnte kurze Zeit später in einer Zeitung oder einem Buch erscheinen. Munks Predigten warenflott geschrieben und immer lebensprall. Doch dieses vergängliche Leben vollzog sich in jeder Stunde vor dem Horizont der Ewigkeit. Munk liebte das Leben und wusstees zu genießen. Aber der Tod war immer gegenwärtig, nicht als Schrecken, sondern als Stimulans, den Augenblick zu leben. Kaj Munk war ein Erweckungsprediger der besonderen Art.
So predigte er recht offen über Liebe und Sexualität. Munk pries das Mysterium der Liebe und das Sakrament der leiblichen Vereinigung von Mann und Frau. Für ihn entspringen Religion und Sexualität aus einem Urgrund - wie ihn die Genesis durch den Mythos von Adam und Eva ins Bild setzt: „Geh hinein, hinein zu der Frau, die du liebst, und erlebe in ihrem Leibe das Wunder, das dich noch größer dünkt. Ist nicht ihr Lächeln oder der Zornesblitz in ihren Augen - ach! der Augen, die übermorgen schon brechen müssen! - ist dir das nicht eine Ewigkeit, die noch reicher ist, als die Sterne da draußen? Sind dir nicht die Linien ihrer Brüste oder der Duft ihres Schosses als eine Gnade gewährt, als etwas Geheimnisvolles und etwas, was demütig macht, als wären es Sakramente?“
Wie jeder Pastor predigte er einst über die Hochzeit von Kana und das Weinwunder. Dabei ließ er seiner dichterischen Phantasie freien Lauf. Munk fragte sich und seine Gemeinde, wie es dem Brautpaar später ergangen sein mochte. Schmeckten die Küsse zur silbernen Hochzeit noch ebenso süß wie die ersten?
Natürlich habe es unter den Eheleuten gelegentlich Krach gegeben, weiß Munk. Auch kannten sie die Anfechtungen bis hin zu Fluchtgedanken. Doch im Keller ihres Hause lag noch eine Flasche vom Weinwunder. Die entkorkten sie und kamen durch den Wein in Berührung mit dem Mysterium des Anfangs.
Kaj Munk war kein Heiliger mit tadelloser Lebensführung, kein leuchtendes Vorbild ohne Schatten. Er war, was wir heute „authentisch“ nennen. In Liebe und Leiden wuchs er über sich hinaus. So wurde er ein Zeichen Gottes in der Dänischen Kirche.
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