Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis? Was brauchen wir, um etwas erkennen zu können? Verstand – sagten die Rationalisten (René Descartes war so einer), denn Erkenntnis ist eine intellektuelle Leistung unseres menschlichen Geistes. Sinne – sagten die Empiristen (etwa John Locke), denn was wir nicht wahrnehmen, können wir auch nicht erkennen. Beides – sagt Immanuel Kant: „Der Verstand vermag nichts anzuschauen, die Sinne vermögen nicht zu denken, allein dadurch, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“ Und dadurch wird vernünftiges Handeln möglich. „Sehen – Urteilen – Handeln“, das ist der Dreiklang der christlichen Moral. Passt.
Wahrnehmung als Problem
Eigentlich hochplausibel und man fragt sich, warum es ein gutes Jahrhundert dauerte, auf diesen Trichter zu kommen und warum Kant durch diese Erkenntnis so berühmt werden konnte. Andererseits ist das Zusammenspiel von Sinneseindrücken und Wahrnehmungen auf der einen, Gedanken und Geist auf der anderen Seite alles andere als trivial. Es ist ja bis heute ein ungelöstes Problem, warum wir überhaupt bestimmte Dinge in einer bestimmten Weise empfinden. Das heißt: Schon die Wahrnehmung ist ein philosophisches Problem. Hinzu kommt dann noch die Überführung der Wahrnehmung in Gedanken – jedenfalls wenn dieser mehr sein soll als ein emergentistisches Korrelat, also ein Äquivalent in Form elektrischer Ladung im Gehirn, wenn man also an der Behauptung festhält, es gebe Geist.
Und dann gibt es zwischen Dingen und Gedanken noch die Sprache, also: Worte. Es gibt das Bier im Glas, das man trinkt. Es gibt den Gedanken an das Bier und wie man es trinkt. Und es gibt das Wort „Bier“ (oder „beer“ oder „cerveza“ oder „birra“). Dazwischen gibt es Zusammenhänge. Wenn man nicht weiß, dass Bier „cerveza“ heißt, kann man es auf der Nordseite Mallorcas auch nicht bestellen. Wenn man nicht denken kann, wie (gut) es schmeckt, will man es nicht bestellen. Wenn man es nie getrunken hat, weiß man nicht, wie es schmeckt. Neurowissenschaftler können zeigen, dass bereits das Wort „Bier“ (wenn man weiß, was damit gemeint ist) im Gehirn Reaktionen verursacht, die denen entsprechen, die man hat, wenn man Bier trinkt. Werbeleute machen sich das zunutze. Alles ganz schön kompliziert.
Das Ampelbeispiel
Jedenfalls für Philosophen. Im Alltag der meisten Menschen verursacht es meistens keine Schwierigkeiten, Sinneswahrnehmung und Verstand (in Form von Wissen) in Erkenntnis und vernünftiges Handeln zu überführen. Wenn man weiß, dass „rot“ eine Farbe und zugleich eine Ampelphase ist und man ferner die Regel kennt, dass man zu stoppen hat, wenn die Ampel „rot“ zeigt, dann nimmt man das rote Licht der Ampel zunächst visuell wahr, erkennt dann, dass man halten sollte und tut es. Alles andere wäre unvernünftig.
Zugegeben, das Ampel-Beispiel ist ein sehr einfaches. Schwieriger wird die Sache schon bei der Wahrnehmung komplexer Phänomene wie einer Pandemie oder dem Klimawandel. Gerade hier ist es besonders wichtig, Wahrnehmung und Wissen zusammenzuführen, um wirklich erkennen zu können, was los ist – und damit fähig zu werden, nach Maßgabe praktischer Rationalität richtig zu handeln. Das Problem dabei ist oft: Keine, wenig oder sehr selektive Wahrnehmung trifft dabei auf ein Pseudo-Wissen. Dass daraus dann auch keine nennenswerte Erkenntnis „entspringen“ kann, liegt auf der Hand. Was dies dann für unser Handeln bedeutet, ebenfalls. Eine schlechte Nachricht.
Reduzierte Komplexität
Es gibt aber auch eine gute: Man kann – mithilfe Kants – Erkenntnis üben. Systematisch. Zunächst dadurch, dass man bewusst wahrnimmt. Dass man vor allem unterscheidet zwischen der eigenen Wahrnehmung und dem, was man an Prägungen, Erwartungen und Vorurteilen dahingehend mitschleppt, wie man gefälligst wahrzunehmen habe. Dann, indem man sich das Wissen zum betreffenden Gegenstand aneignet, möglichst breit, möglichst tief, möglichst kritisch. Aber auch nicht kritischer. Anschließend muss man – Kant folgend – beides miteinander in Beziehung bringen: der gebildete Verstand muss die Sinneseindrücke und Wahrnehmungen einordnen. So gelingt Erkenntnis, jenseits von unreflektierter Anekdotenevidenz und lebensferner Abstraktion.
Auch das ist einfacher gesagt als getan. Zumal wenn es etwa um „Klimawandel“ oder „COVID-19“ geht. Die Komplexität dieser Phänomene muss reduziert werden – hinsichtlich Wahrnehmung und Wissensbildung. Man kann nicht alle Studien zum Thema Klimawandel oder COVID-19 lesen. Das geht nicht. Der springende Punkt: Man muss zwischen „einfach“ und „banal“ unterscheiden, zwischen Vereinfachung und Banalisierung. Man muss also wissen, wie man Komplexität sinnvoll reduziert, wie man vernünftig Grenzen zieht. Das ist eine Art unerlässliche „Meta-Information“. Wer dies nicht vermag, läuft Gefahr, Irrelevantes wahrzunehmen, unpassende Daten und Fakten zum Wissensbestand des fraglichen Gebiets zu erheben sowie wichtige Daten und Fakten zu ignorieren. Am Ende wird er ein schiefes Bild erhalten, da sein Modell der Wirklichkeit mit dieser in Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Der Glaube klammert
Es hilft alles nichts: Wir landen bei den validen, den belastbaren Quellen, den reliablen, den wiederholbaren Studien, den verlässlichen Informanten, den vertrauenswürdigen Medien, den Autoritäten. Und damit zugleich beim Glauben. Der Glaube – es muss kein religiöser Glaube sein – klammert „Sehen, Urteilen und Handeln“. Das ist nichts, wofür man sich schämen muss. Im Gegenteil: Schämen sollte sich der, der sich dieser geglaubten Annahmen selbst zu sicher ist. Andererseits muss der Zweifel auch mal ein Ende finden. Wer zweifelt, muss auch am Zweifel zweifeln. Und das geht nur mit einem Grundvertrauen – in die individuelle Wahrnehmung, aber auch in das kollektive Wissen.
Wichtig ist es, sich der Vorläufigkeit solchen Wissens bewusst zu sein. Alles Wissen unterliegt einem Zeitindex. Es ist ein Wissensstand – hic et nunc. Gibt es umgekehrt eine Endgültigkeit des Nichtwissens? Dazu müssen wir die Fragestellungen unterscheiden: Bei naturwissenschaftlichen Fragen könnte jedes Nichtwissen ein „Noch-nicht-wissen“ sein, bei einigen geisteswissenschaftlichen Fragen könnte es ein prinzipielles Nichtwissen geben, so dass die blochsche Hoffnung des „Noch nicht“ trügerisch wäre.
Existiert Gott?
Man denke etwa an die Frage nach Gott: „Existiert Gott?“– eine Antwort darauf muss jeweils so viele untereinander inkommensurable, also nicht vergleichbare, Vorannahmen machen, dass es keine Antwort geben kann, die hinsichtlich der enthaltenen Information über die jeweils zu glaubenden Vorannahmen hinausginge und daher von der Vernunft zumindest vorläufig anerkannt werden müsste wie etwa die Antworten auf die Fragen, warum Gegenstände zu Boden fallen oder sich Verwandte ähnlich sehen. Das ist der Unterschied zwischen einem Geheimnis (des Glaubens) und einem Rätsel (der Wissenschaft): der Anteil der Vorannahmen bei der Ergründung und der Grad der Allgemeinverbindlichkeit der Bewertung.
Wenn nun das geteilte Wissen wegfällt, bleibt für die Erkenntnis – immer noch nach Kant – nur die Wahrnehmung übrig, die hier keine sinnliche, sondern eine innere, geistige Erfahrungsqualität meint, die uns zurückwirft auf das Bindeglied zwischen Dingen und Gedanken: die Sprache. Antworten auf die Gottesexistenzfrage sind immer zirkulär: Prozess und Ergebnis sind stark vorherbestimmt von der Anschauung, die ich habe, wenn ich das Wort „Gott“ höre oder sage, so stark, dass die Antwort auf die Existenzfrage im Grunde schon mit dieser Anschauung gegeben ist. Freilich gilt das auch für empirische Objekte – wer zu Fledermäusen forscht, muss sagen, was er meint, dass eine Fledermaus sei. Nur lassen sich dafür recht einfach allgemein (oder zumindest weithin) anerkannte Bedingungen angeben, die sicherstellen, dass wir über das Gleiche sprechen, wenn wir „Fledermaus“ sagen. Das ist bei „Gott“ nicht ganz so einfach. Es gibt keine weithin (oder gar allgemein) anerkannte Definition des Begriffs „Gott“.
Wer ist Gott für mich?
Sinnvollerweise kann man die Frage „Existiert Gott?“ nur beantworten, indem man zuvor sagt, was oder wer „Gott“ ist – und das ganz persönlich: „Für mich ist Gott ...“. Das Nachvollziehen der Plausibilität des subjektivistischen „Für mich existiert Gott als ...“ ist das Maximum an Verständigungsmöglichkeit im Rahmen der Näherung an diese Frage. Die Schaffung intersubjektiver Verbindlichkeit im Rahmen einer kanonischen Glaubensaussage (Glaubenswahrheit) ist immer dogmatisch, niemals letztbegründbar (was wiederum nicht heißt: falsch! – Wahrheit ist etwas anderes als Gewissheit), weil – mit Kant – die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis fehlt: das Zusammenspiel von Sinnen und Verstand.
Also: Hier impliziert die große Bedeutung des persönlichen Glaubens tatsächlich ein Nicht-wissen-können, auch, wenn der Glaube in seiner Bedeutung für den Menschen nicht auf ein Nichtwissen beschränkt bleibt, sondern im positiven Modus als Vertrauen in Erscheinung tritt. So gedeutet gibt es dann eben nichts mehr zu ergründen, sondern „nur“ noch anzunehmen. Die Grammatik des Vertrauens liegt jeder kritischen Nachforschung quer: Entweder ich vertraue, dann muss ich nicht mehr bohren, oder ich bohre nach, dann fehlt mir wohl das Vertrauen. Mehr ist da nicht drin – und es ist nicht zu sehen, dass wir hier „weiter“ kämen, solange es unterschiedliche Gottesvorstellungen gibt, die wiederum an Wahrnehmungen und Erfahrungen gebunden sind – individuell des einzelnen Glaubenden und kollektiv der Religionsgemeinschaft. Das ordnende Wissen – die Theologie kann das nicht erzeugen – steht leider nicht zur Verfügung, der Verstand versagt, wenn der Gegenstand der Erkenntnis Gott ist. Unvernünftig wird das Handeln aus dem Glauben heraus damit jedoch nicht – solange klar ist, dass es Glaube ist und solange dieser dabei so komplex wie irgend möglich erhalten bleibt. Banalisierung wirkt hier fatal.
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