Die Sache ist klar: „Katholische Kirche und Wissenschaft? Passt nicht zusammen!“ Ganz im Gegenteil: „Die Katholische Kirche hat die Entwicklung der Wissenschaft behindert!“ – Soweit die heute oft anzutreffende Meinung. Für viele steht fest: Die Kirche ist die natürliche Gegnerin von Vernunft, Fortschritt und Wissenschaft. Die Sache ist klar. Ist sie es? Schauen wir in die Geschichte!
Theorie und Tatsache
Um die systematische Wissenschaftsfeindlichkeit der Katholischen Kirche zu zeigen, wird oft auf den Inquisitionsprozess gegen Galileo Galilei verwiesen. Bei genauerer Betrachtung stellen sich jedoch die Dinge ganz anders dar. Der Galilei-Prozess markiert nicht die vermeintliche Bruchstelle zwischen Kirche und Wissenschaft (oder gar Religion und Vernunft!), als die er so oft und gern herbeizitiert wird, sondern verdeutlicht vor allem die Differenz von Theorie und Tatsache, einen Unterschied, auf den die Kirche (insbesondere deren Verfahrensbevollmächtigter Robert Kardinal Bellarmin) im Gegensatz zum Angeklagten größten Wert legte, eine Haltung, die auch von der gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie eingefordert wird. Ob Karl Popper, Paul Feyerabend oder Carl Friedrich von Weizsäcker – sie alle billigen der Kirche des 17. Jahrhunderts implizit oder explizit zu, was der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts selbstverständlich werden sollte: Eine Theorie ist keine Tatsache.
Erlaubte Denkmodelle
Mit der Sache selbst (heliozentrisches Weltbild) hatte die Kirche kein Problem – das war ein alter Hut. Nikolaus Kopernikus‘ Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium, in dem er das heliozentrische Weltbild als Hypothese vorstellte, war bereits 1543 erschienen. Kopernikus hatte es Papst Paul III. gewidmet und es bildete die Grundlage für die Kalenderreform durch Papst Gregor XIII. (1582). Zwei Päpste, eine Meinung: kein Problem. Erst als Galileo Galilei aus der fast achtzig Jahre alten und von der Kirche als solche akzeptierten Theorie eine Tatsache machen wollte, schritt Rom ein. Kopernikus hingegen blieb zeitlebens im Dienst der Kirche. Es ging also gar nicht um Inhalte, sondern um die korrekte wissenschaftliche Methode. Für diese steht die Katholische Kirche.
Das Beispiel Nikolaus Kopernikus zeigt: Wer seine Theorien als solche vorstellte, hatte von der Kirche nichts zu befürchten. Warum auch? Seit jeher sind die Kirche und die Wissenschaft kultur- und sozialhistorisch eng verbunden. Als Buchreligion brachte das Christentum die Notwendigkeit einer tradierten Schriftkultur mit sich. Christliche Missionare gründeten Schulen (zum Lesen lernen) und Bibliotheken (für das zu Lesende). Nördlich der Alpen war so was bis dahin unbekannt. Ohne die Kirche (das heißt: die Klöster) hätte es im mittelalterlichen Europa keine Universitätsgründungen gegeben, nicht in Bologna, nicht in Paris, nicht in Köln. In den Wahlsprüchen renommierter Einrichtungen ist die christliche Grundierung heute noch erkennbar: Dominus Illuminatio Mea („Der Herr ist mein Licht“) – Psalm 27,1 ziert das Wappen der Universität Oxford. Und es hätte auch im Rest der Welt keine Universitätsgründungen gegeben; das europäische Bildungsmodell gelangte über die Missionsorden nach Übersee. Noch heute sind die Dominikaner, Franziskaner und Jesuiten Träger vieler Bildungseinrichtungen in Amerika, Afrika, Asien und Australien.
Fromme Forscher
Das allein könnte noch unter die Herrschaftspolitik des Westens subsumiert werden. Doch der Konnex von Glauben und Denken, von Religion und Wissenschaft ist stärker als die geschichtlich gewachsene institutionelle Verbindung von Kirche und Universität. Die Metathese der Naturwissenschaft lautet, dass es universale Gesetzmäßigkeiten gibt, die überall gelten, auf der Erde, aber auch im Weltraum. Ohne diese lohnte sich die Forschung nicht, geht es doch dabei gerade um die Erkenntnis der Naturgesetze. Im Glauben der christlichen Forscher des 16. und 17. Jahrhunderts, also im Glauben eines Kopernikus, eines Kepler, eines Newton oder eines Leibniz ist Gott der Garant dieser stabilen Verhältnisse. Viele dieser herausragenden Köpfe der Wissenschaftsgeschichte betrieben auch intensive theologische Studien, verbanden also ihre Forschungstätigkeit mit ihrem religiösen Glauben, ohne den sie wiederum gar nicht angefangen hätten, nach Naturgesetzen zu suchen. Wissenschaft ist also methodologisch untrennbar mit dem Glauben an Gott verbunden. Hinzu kommt, dass die betrachtete Natur als Schöpfung begriffen wurde und die Forschung damit auch als Annäherung an den Schöpfer. Die Welt zu verstehen hieß, Gott zu verstehen. Diese Motivation überstieg das mit dem Glauben an Gott unterstellte notwendige Minimum an struktureller Verlässlichkeit der Welt und trieb die Forschung weiter an. Nur so lässt sich erklären, zu welchen Leistungen die genannten Genies fähig waren, Leistungen, von denen wir bis heute profitieren – oft, ohne uns dessen bewusst zu sein. Kein Computer und kein Smartphone liefen heute, wäre Leibniz nicht ein frommer Christ gewesen, der den Binärcode aus einer theologischen Überlegung heraus entwickelte: Gott (1) schafft aus Nichts (0) die Welt (alle Zahlen).
Nun war Leibniz bekanntlich Protestant (wenn auch mit ökumenischer Ader) – was aber ist mit der Katholischen Kirche? Wenn dem so ist, dass der Glaube das Forschen motiviert, müsste es ja von katholischen Forscherpersönlichkeiten in Naturwissenschaft und Technik nur so wimmeln. Tut es auch. Und ebenfalls mit Wirkung auf unsere gegenwärtige Lage.
Katholiken an der Spitze wissenschaftlicher Entwicklungen
Heute sprechen alle von der Corona-Impfung. Das Impfprinzip entdeckte der Katholik Louis Pasteur. Heute sprechen alle von den Chancen einer medizinischen Revolution, die Gentherapien entwickelt, individuell abgestimmt auf den einzelnen Menschen. Die Grundlagen der Genetik entdeckte ein Augustiner, Gregor Mendel. Heute sprechen alle von der grünen Mobilitätswende und vom Elektro-Auto. Den ersten Elektromotor baute ein Benediktiner, Ányos Jedlik. Heute halten alle den „Big Bang“ für die plausibelste Weltentstehungstheorie; den Begriff führte ein katholischer Geistlicher in die astronomischen Debatten ein: Georges Lemaître, lange Zeit Präsident der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Viele Menschen, die heute an Diabetes leiden, können mit der Insulin-Therapie behandelt werden, erstmals in Neapel eingesetzt von Giuseppe Moscati, den die Kirche als Heiligen verehrt. Der katholische Priester John Augustine Zahm befasste sich – nur wenige Jahre nach Darwin – mit der Evolutionstheorie, der fromme Katholik Louis-Victor Pierre Raymond de Broglie entwickelte die Theorie der Materiewellen, der ehemalige Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben, Jérôme Lejeune, entdeckte die genetische Ursache des Down-Syndroms. Ein katholischer Priester war der erste, der einen Planetentransit beobachtete und außerdem noch das Trägheitsprinzip und den Energieerhaltungssatz formulierte: Pierre Gassendi. Und – Surfer aufgepasst! – wer erfand den nützlichen Synthesekautschuk Neopren? Richtig: ein katholischer Priester – Julius Arthur Nieuwland.
Die enge Verbindung von Katholizität und Universität hat zudem in der Geschichte der Geschlechtergleichstellung positive Spuren hinterlassen. Einige herausragende Frauen in der Wissenschaft waren eng mit der Kirche verbunden: Die erste Frau mit einem Doktortitel in Medizin war eine Katholikin (Maria Dalle Donne), ebenso wie die erste Professorin in Oxford oder Cambridge (Dorothy Annie Elizabeth Garrod), während Schwester Mary Kenneth Keller als erste Informatikprofessorin in den USA wirkte. Schwester Miriam Michael Stimson, eine Chemikerin und DNA-Expertin, war immerhin die zweite Professorin an der Pariser Sorbonne.
Geweitete Vernunft
Und nun denken wir erneut über die postulierte Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche nach: Hätten diese Menschen, die z.T. bahnbrechende Entdeckungen machten, unter dem Dach einer ihrem Forschungsdrang feindselig gegenüberstehenden Institution leben können? Wohl kaum! Die Beispiele christlicher Forscherinnen und Forscher aus der Wissenschaftsgeschichte, vor allem aber die methodologische Weitsicht der Kirche zeigen, dass sowohl Religion als auch Wissenschaft als Ausdrucksformen der menschlichen Vernunft eine berechtigte Rolle bei dem Versuch spielen, zu einer Selbstvergewisserung und einer Orientierung in der Welt zu gelangen. Die ganze Wahrheit gibt sich nur einer „geweiteten Vernunft“ (Benedikt XVI.) zu erkennen, die das Beweiswissen der Wissenschaft mit dem Offenbarungswissen der Religion verbindet.
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