Würzburg

Warum wir jetzt Demut brauchen

Risiken und Nebenwirkungen bergen nicht nur Medikamente, sondern auch politische Maßnahmen, wie die zur Bekämpfung einer Pandemie.
Demut hinter Masken
Foto: Adobe Stock | Demut hinter Masken
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Demut ist ein Wort, das fast vollständig aus unserem Wortschatz verschwunden ist. Nietzsche befand, Demut gehöre „zu den gefährlichen, verleumderischen Idealen (…), hinter denen sich Feigheit und Schwäche, daher auch Ergebung in Gott“ versteckten. In der Tat: Der moderne, säkulare Mensch scheint weder Feigheit noch Schwäche zu kennen. Er nimmt die Probleme selbstbewusst in die Hand und hat sich an eine große Sicherheit in seinem Leben gewöhnt.

"Der Arzt bekam das Gefühl, Halbgott in Weiß, Herr über Leben und Tod zu sein."

Da trifft ihn das Virus SARS-CoV-2 hart und unvorbereitet. Ihm wird zugetraut, Schäden in apokalyptischem Ausmaß verursachen zu können. Über Nacht sind alle sorgfältig aufgebauten Sicherheiten verschwunden. Die ganz ungewohnte Angst, die Kontrolle verlieren zu können, breitet sich – wie das Virus selbst – pandemisch aus. Solchermaßen überrumpelt schreien viele – in Angst erstarrt – nach der starken Hand des Staates. Noch so drakonische Einschränkungen unseres Lebens werden klaglos als Therapie gegen das Virus akzeptiert, solange sie die Hoffnung stärken, die verlorene Sicherheit wieder zurückzuerlangen.

Von Risiken und Nebenwirkungen

Mit Wirkung und Nebenwirkungen einschneidender Maßnahmen kennt sich die moderne Medizin aus. Die moderne Medizin musste demütig akzeptieren, dass trotz anfänglich spektakulärer Erfolge Krankheit und Tod Teil unseres Lebens bleiben. Keine noch so moderne Technik, kein noch so hoher finanzieller Einsatz, keine noch so teure Versicherung können daran etwas ändern, schon gar nicht die peinlichen Aktionen, die Krankenversicherungen zu Gesundheitskassen, Krankenhäuser zu Gesundheitszentren und Krankenschwestern zu Gesundheitspflegerinnen umetikettieren.

Im Bereich der Intensivmedizin lässt sich besonders gut beobachten, wie sich nach großen Erfolgen Bescheidenheit einstellen kann. Zunächst einmal haben intensivmedizinische Maßnahmen die Medizin revolutioniert. Viele Menschen konnten in scheinbar aussichtlosen Situationen vor dem sicheren Tod bewahrt werden. Einige der Operationen, auf die heute niemand mehr verzichten will, wurden erst durch Fortschritte in der intensivmedizinischen Nachversorgung möglich gemacht. Der Arzt bekam das Gefühl, Halbgott in Weiß, Herr über Leben und Tod zu sein. Doch inzwischen wurden der Medizin auch hier neue Grenzen aufgezeigt. Seitdem verstrickt sie sich nicht mehr unter Einsatz aller Mittel und Duldung gravierender Nebenwirkungen in einen erbitterten Kampf gegen den Tod. Heute versucht sie, Patienten in gütlichem Einvernehmen mit der Natur zu dienen.

Hoher Bedarf an Beatmungsgeräten

Es besteht Einvernehmen darüber, dass das gesamte Maßnahmenpaket gegen das SARS-CoV-2 Virus darauf zielt, Spitzenbelastungen in der Intensivmedizin durch eine Streckung der Pandemie zu vermeiden. Letztlich geht es dabei speziell um die Sorge, einen erhöhten Bedarf an Beatmungsbetten nicht decken zu können. Im Alter nimmt die Immunkompetenz ab. Ohne adäquate Immunkompetenz besteht die Gefahr, dass eine Pneumonie beatmungspflichtig wird und in ein „Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS)“ übergeht. Bei dieser gefährlichen Erkrankung, die nicht nur die Lunge, sondern den gesamten Organismus erfasst, müssen Erfolge einer Intensivmedizin speziell im Alter sehr zurückhaltend bewertet werden.

Tatsächlich ist die Letalität, also die Sterberate einer SARS-CoV-2-Pneumonie, unter maschineller Beatmung extrem hoch: Erste Daten des britischen Intensive Care National Audit and Research Center (INARC) vom 27. März zeigen, dass von 775 Patienten 66,3 Prozent eine Beatmung nicht überlebten. Bei Patienten über 80 Jahre lag die Letalität sogar bei 72,9 Prozent. In einer kleinen SARS-CoV-2-Fallserie aus Wuhan lag die Sterberate unter Beatmung bei erschreckenden 97 Prozent (Lancet Respiratory Medicine, 20.2.20). Die wenigen Patienten, die nach langer Beatmung die Intensivstation lebend verlassen, haben mit sehr hoher Morbidität, also gravierenden Folgeschäden, zu kämpfen.

Eine Intensivtherapie mit einer so niedrigen Erfolgsrate und einem so hohen Nebenwirkungsprofil ist aus medizinischer Sicht speziell im Alter nicht indiziert. Entsprechend enthält auch beinahe jede Patientenverfügung die Forderung, eine Intensivtherapie mit geringer Erfolgsaussicht nicht zu beginnen oder im Falle eines fehlenden Ansprechens schnellstens zu beenden. Statt eingreifender Intensivmedizin wünschen sich heute viele Menschen sanfte Palliativmedizin, die sich darauf konzentriert, Atemnot und Schmerzen effektiv zu kontrollieren und seelisches Leiden zu lindern.

Grimmiger Kampf mit allen Mitteln

Der Bedarf an Beatmungsplätzen in den Intensivstationen in Deutschland wurde – so kann man getrost schon jetzt feststellen – in erster großer solidarischer Fürsorge überschätzt. Zudem wurde wohl auch der Wunsch vieler alter Menschen, ohne intensivmedizinische Maßnahmen in Ruhe zu sterben, nur unzureichend berücksichtigt. Vielmehr haben Gesellschaft und Politik einen grimmigen Kampf gegen das SARS-CoV-2 Virus mit allen Mitteln aufgenommen. Dem Politiker wird zugetraut, die nötigen Maßnahmen zur Lösung der globalen Bedrohung durch das Virus zur Hand zu haben. Die Exekutive darf und soll – bis vor kurzem undenkbare – staatliche Zwangsmaßnahmen rezeptieren. Unwidersprochen wird das alte pädagogische Prinzip akzeptiert, dass die Effektivität einer Maßnahme mit ihrer Schmerzhaftigkeit steigt. Das lieferte die Berechtigung, in schneller Folge mühsam erworbene Regeln eines harmonischen gesellschaftlichen Zusammenlebens außer Kraft zu setzen. Auch ausgeprägte Kollateralschäden wurden bislang lediglich mit Bedauern zur Kenntnis genommen, so als seien sie „alternativlos“.

Freiwilige Unterwerfung

Das verwundert insofern, als Demokratien ihre Stabilität doch aus alternativen Betrachtungsweisen im Rahmen der Gewaltenteilung schöpfen. Exekutive, Legislative und Jurisdiktion müssen ihre jeweiligen Vorstellungen demütig und bescheiden untereinander abstimmen. Das Prinzip von „Check and Balance“ schützt vor unkontrollierten Maßnahmen und Willkür. Nun aber unterwerfen sich mündige Bürger auch in Demokratien in ungeahnter, freiwilliger Selbstkontrolle den alleine von der Exekutive verordneten Therapien. Manches wird in vorauseilendem Gehorsam noch verstärkt. Nicht wenige fühlen sich berufen, Mitbürger aufzuklären, zu beraten, zu ermahnen. Wer nicht mitmacht, wird als Verharmloser oder gar als Sicherheitsrisiko gebrandmarkt. Es darf wieder denunziert werden! Angesichts dieser Entwicklung scheint die Sorge berechtigt, dass viele der Maßnahmen zur Abwehr des Virus mehr Schäden anrichten, als es das Virus selbst vermag.

Bescheiden Grenzen anerkennen

Generell fehlt es an demütigem Diskurs in der öffentlichen Debatte und das behindert Fortschritt. Auf eindrückliche Weise lehrt das die Poppersche Wissenschaftstheorie. Sie fordert, jeder noch so plausiblen eigenen Hypothese bescheiden eine alternative Hypothese gegenüberzustellen. Die daraus entstehende, erweiterte Synthese bildet die Grundlage für fortschreitende wissenschaftliche Erkenntnis. Und schon im alten Rom galt „Audiatur et Altera Pars“, also das Prinzip, die Meinung des anderen in Demut ernst zu nehmen, um so die besten Ergebnisse zu erzielen! Die andere Meinung mundtot zu machen, behindert dagegen den Fortschritt.

Maßnahmen zu beenden braucht Mut

Schon jetzt muss intensiv über das Ende des derzeitigen Ausnahmezustands nachgedacht werden. Denn häufig ziehen sich Krisen und Kriege auch nur deshalb in die Länge, weil niemand den Mut aufbringt, einmal implementierte Maßnahmen zu bescheiden oder gar zu beenden. Es erfordert (De-)Mut, öffentlich einzugestehen, dass es entgegen aller Ankündigungen nicht gelungen ist, die Probleme vollständig zu lösen, und sie – wie ursprünglich erhofft – ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Das auskömmliche, bescheidene Zusammenleben mit dem Problem, dem „Feind“ von gestern, ist keine attraktive Perspektive. Niemand will die undankbare Friedensvermittlung übernehmen. Demut und Bescheidenheit kommen in Krisensituationen selten gut an. Deshalb kommt das Ende eines Konflikts häufig erst mit der Erschöpfung aller Beteiligten.

Sich demütig der Realität, der Natur, unterzuordnen, bedeutet, eine Bedrohung als Lebensrisiko zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Dazu gehört, bescheiden seine Grenzen anzuerkennen, um innerhalb dieser frei leben zu können. So verstanden, ist Demut eine Form des Muts zum Leben. Hochmut dagegen lässt nur mutig erscheinen. In Wirklichkeit hat der Hochmütige Angst, Angst vor Demütigungen, die seine natürlichen Grenzen offenbaren. Beginnen wir daher, demütig die naturgegebenen Grenzen sowie die Risiken und Nebenwirkungen unserer Maßnahmen angesichts der SARS-CoV-2 Pandemie in den Blick zu nehmen.

Der Autor ist Professor an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und in nationalen und Internationalen Gremien zu Fragen der Bioethik tätig.

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