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Warum glauben wir?

Vernunft und Religion entstehen zusammen. Für den Glauben braucht es eine Form von Verstand, die Verständigung ermöglicht und zur Gemeinschaftsbildung befähigt.
Ausstellung Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland
Foto: Anne Pollmann (dpa) | Das älteste sicher datierte Kunstwerk, die Venus vom Hohlefels, entstand vor 35 000 Jahren.

Der glaubende Mensch entsteht mit dem Erscheinen des Bewusstseins und der Vernunft in der Welt, also mit dem großen Auftritt des Geistes. Denken und Glauben sind in einem Kontext zu einer Zeit entstanden. Wir kennen weder den genauen Zeitpunkt noch die genauen Gründe für das Auftreten von Rationalität und Religiosität. Hinzu kommt, dass unklar ist, was man als „vernünftiges“ Verhalten bezeichnen soll. Ist bereits der Gedanke: „Ich könnte diesen Stein spitz machen und damit hätte ich ein etwas besseres Werkzeug!“ ein Ausdruck von Vernunft? Oder erst das, was Psychologen „kollektive Intentionalität“ nennen, also das bewusste Mitteilen (oder auch Verschweigen) von Gründen und Motiven in einer Lerngemeinschaft?

Wenn man in der Wissenschaft nicht mehr weiter weiß, versucht man oft, das Problem dadurch in den Griff zu bekommen, dass man sagt, es gebe das Gesuchte in dieser reinen, klar definierten Form nicht, es könne nur graduell bestimmt werden. Michael Tomasello, der sich sehr viel mit der Kognitionsentwicklung befasst hat, unterscheidet beispielsweise sechs Stufen von Intentionalität – von einfachen Gruppen mit Werkzeuggebrauch vor rund sechs Millionen Jahren bis hin zu komplexen sozialen Systemen, in denen es ein Beurteilen der Ansichten Dritter gibt – und damit auch so etwas wie Stolz und Scham und Trauer, aber auch Humor, Kunst und Religion. Das wäre die Zeit vor etwa 30 000 bis 300 000 Jahren.

Venus vom Hohlefels

Sehr ungenau, aber das ist die Zeitspanne, in der beim Menschen Intentionalität entsteht. Die ältesten, unbestritten dem anatomisch modernen Menschen, dem Homo Sapiens, zugeordneten Fossilien sind 315 000 Jahre alte Schädelknochen aus Marokko. Das älteste sicher datierte Kunstwerk, die Venus vom Hohlefels, entstand vor 35 000 Jahren. Dazwischen spannt sich der Zeitraum auf, der für unsere Frage interessant ist.

Denn das für uns Interessante ist jetzt: Erst auf der sechsten Stufe nach Tomasello ist die zwischen Ich und Du vermittelte Bezugnahme auf ein Drittes möglich, also Erfahrung wird geteilt und auch verstanden. Erst aus dieser Zeit sind neben den Gebrauchsgegenständen auch symbolische Kunstgegenstände nachweisbar. Also nicht nur schöne Speerspitzen, sondern Schmuck, der eigentlich nichts bringt, sondern „nur“ den Status in der Gruppe definiert. Für den Glauben braucht es eine Form von Verstand, die Verständigung ermöglicht, Gemeinschaft bildet. Umgekehrt stabilisiert der geteilte Glaube die sozialen Beziehungen. Ob das nun Folge der religiösen Erfahrungen war oder aber überhaupt der Sinn und Zweck von Religion ist, darüber gehen die Meinungen wieder auseinander.

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Entstehung von Vernunft und Religion

Jetzt kann man natürlich weiterfragen, wie es denn dazu gekommen ist, dass der Mensch diese einzelnen Stufen jeweils erklimmen konnte, gerade die letzte, die ihn von der nicht-humanen Natur unterscheidet, und die damit einen guten Grund bietet, erstmals wirklich von „Vernunft“ zu sprechen. Es gibt Anthropologen, die die Mischernährung mitverantwortlich machen: Also, wer Schimpanse werden wollte, ist beim Gemüse geblieben, der künftige Homo Sapiens hat begonnen, Fleisch zu essen. Die Proteine hätten ihn dann körperlich so weit entwickelt, dass irgendwann das Gehirn an Größe und auch die Zahl der neuronalen Verbindungen zunahm. Das ist das, was Yuval Noah Harari in seinem viel beachteten Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ als „kognitive Revolution“ bezeichnet (vor etwa 70 000 Jahren).

Zugleich hätte das Zubereiten des Fleisches auf dem Feuer dazu geführt, sagen Anthropologen, dass fortan weniger Energie für die Verdauung nötig war. Wir alle kennen ja den Spruch: „Voller Bauch studiert nicht gern!“ Da ist etwas dran. Umgekehrt: Wenn ich Blut im Kopf haben will, um besser denken zu können, muss ich dafür sorgen, dass es nicht im Magen-Darm-Trakt gebraucht wird. Also: Gut verdauliche Kost, die dennoch nahrhaft ist.

Zur Frage der Entstehung von Vernunft und Religion haben sich neben anderen auch Charles Darwin und Pierre Teilhard de Chardin geäußert. Darwin schreibt: „Sobald die bedeutungsvollen Fähigkeiten der Einbildungskraft, Verwunderung und Neugierde, in Verbindung mit einem Vermögen nachzudenken, theilweise entwickelt waren, wird der Mensch ganz von selbst gesucht haben, das was um ihn her vorgeht zu verstehen, und wird auch über seine eigene Existenz dunkel zu speculiren begonnen haben.“ Auch bei Darwin ist die Verbindung von Denken und Glauben, von Rationalität („Fähigkeiten der Einbildungskraft, Verwunderung und Neugierde“, „Vermögen nachzudenken“) und Religiosität („was um ihn her vorgeht zu verstehen“, „über seine eigene Existenz [..] speculiren“) grundlegend.

Das Phänomen des Menschen

Für Teilhard ist die Entstehung des Menschen einerseits „eine Mutation, die in ihren äußeren Merkmalen allen anderen Mutationen gleich ist“. Andererseits unterscheide sie sich in ihren Ergebnissen von allen anderen Mutationen: „Wir sehen uns der überraschenden zoologischen Tatsache gegenüber, dass sich auf der Erde vom Ende des Tertiärs ab das entscheidende Streben der Evolution offensichtlich auf den Menschen konzentriert.“ Teilhard benutzt den teleologisch aufgeladenen Evolutionsbegriff („Streben“), weil er erkannt hat, dass „alles darauf hindeutet, dass das Leben seit dem Pliozän die besten Kräfte, die ihm noch verblieben, ganz auf den Menschen ansetzte“. Weiter führt er aus, dass „im Lauf der letzten zwei Millionen Jahre zwar sehr viele Gruppen ausgestorben sind, dagegen außer den Hominiden in der Natur keine wirklich neue Gruppe mehr zum Durchbruch gekommen ist“. In sehr metaphorischer Sprache streicht er die menschliche Besonderheit heraus: „An sich sollte schon diese bezeichnende Tatsache unsere Aufmerksamkeit und unseren Verdacht wecken. Wieviel mehr erst eine eingehendere Untersuchung des Phänomens des Menschen. Welch schäumende Kraft, welch ein Überschwang, welche Einmaligkeit begegnen uns doch in diesem letztgeborenen Kind der Erde!“ Eine Einmaligkeit, die sich durch Rationalität und Religiosität auszeichnet.

Also erkannte dieser reflektierende Mensch seine Endlichkeit und aus der Sehnsucht nach dem Höheren und dem Anderen wurde ein Jenseitsglaube, der sich etwa in den Gräbern aller vorchristlichen Kulturen deutlich zeigt. Die prächtigen Bauten und reichen Grabbeigaben, etwa in den Pyramiden der altägyptischen Kultur, aber auch bei uns zeugen von diesem Glauben an ein Leben nach dem Tod. Und ganz nebenbei bieten oft nur die Gräber überhaupt noch Zeugnisse vergangener Epochen. Insofern hat sich die Funktion der Grabbeigaben in gewisser Hinsicht schon im Diesseits erfüllt – die Menschen leben weiter in unseren Vorstellungen, die wir über die Dinge entwickeln, die ihnen ins Grab gelegt wurden. Das älteste erhaltene Grab (in Israel wurde es gefunden) ist etwa 100 000 Jahre alt. Wir befinden uns hier also in der zeitlichen Entwicklung des Menschen auf der sechsten Intentionalitätsstufe. Dann also entsteht ungefähr das Denken und das Glauben, das Trauern und das Erinnern, das Mitteilen und das gemeinsame Voneinander-Lernen, also: „kollektive Intentionalität“.

Eine Leistung der Vernunft

Entscheidend ist: Nur der Mensch glaubt, weil glauben eine Leistung der Vernunft ist. Vilayanur S. Ramachandran stellte die Einzigartigkeit religiöser Erfahrungen heraus: „Wir Menschen besitzen viele Eigenschaften, die nur unserer Art eigen sind, aber keine von ihnen ist so rätselhaft wie die Religion – unser Hang, an eine höhere Macht zu glauben, die die Welt der Erscheinungen transzendiert. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass irgendein anderes Geschöpf nach ‚dem Sinn des Ganzen‘ fragen kann.“ Wir Menschen können es und tun es – seitdem wir über die nötigen Voraussetzungen verfügen.

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