Lebensschutz

Wackelt selbst Rom beim Suizid?

Nach protestantischen Theologen taktieren jetzt auch katholische Theologen bei der Ablehnung der Suizidhilfe und erwecken dabei den Eindruck einer konzertierten Aktion. Doch die eigentlich spannende Frage ist anders gelagert. Sie lautet: Geschieht dies mit dem Segen des Papstes oder ohne ihn?
Assistierter Suizid
Foto: Christoph Soeder (dpa) | Im Vatikan gab es bisher eine klare Haltung zum assistierten Suizid. Kündigt sich jetzt eine Veränderung der vatikanischen Strategie zum Lebensschutz an?

Vor einem Monat hat der italienische Jesuit Carlo Casalone den Unmut von Lebensschützern in Italien und darüber hinaus erregt, als er sich für ein aktuell im italienischen Parlament diskutiertes Gesetz zur restriktiven Legalisierung des assistierten Suizids aussprach. Auch wenn sein Beitrag in der Jesuitenzeitschrit „La Civilta Cattolica“ erschien, die vor Veröffentlichung vom vatikanischen Staatssekretariat geprüft wird, sprach bisher wenig dafür, dass es sich um etwas anderes als eine Einzelstimme in einer konkreten Situation handelte. Bis vor ein paar Tagen ein Gastbeitrag der katholischen Ethikprofessorin Marie-Jo Thiel in der Tageszeitung „Le Monde“ erschien, in dem sie die Argumentation Casalones stützt. Wie Pater Casalone ist Marie-Jo Thiel Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben. Nach einem Gespräch mit dem Kanzler derselben Akademie, Renzo Pegoraro, kommt die katholische Tageszeitung „La Croix“ zum Schluss, der Vatikan habe einen Positionswechsel in seiner Strategie zum Schutz des menschlichen Lebens vollzogen. Sollte dies der Fall sein, würden die Auswirkungen auf die Diskussionen um assistierten Suizid auch in anderen Ländern spürbar werden.

Assistierter Suizid und Euthanasie sind illegal

Sowohl assistierter Suizid als auch Euthanasie sind in Italien aktuell illegal. Beihilfe zum Selbstmord wird laut Artikel 579 des Strafrechts mit einer Freiheitsstrafe von sechs bis 15 Jahren bestraft. Ein Urteil des Verfassungsgerichts von 2019 hat das geltende Recht zwar grundsätzlich bestätigt, allerdings eingeschränkt: Beihilfe zum Selbstmord könne straffrei sein, sofern die Person, die sich töten möchte, „durch lebenserhaltende Maßnahmen am Leben erhalten wird und an einer irreversiblen Krankheit leidet, die ihr physisches oder psychisches Leiden verursacht, welches sie als unerträglich empfindet, aber voll und ganz in der Lage ist, freie und bewusste Entscheidungen zu treffen“.

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Das Verfassungsgericht hat das Parlament aufgefordert, eine entsprechende gesetzliche Regelung zu finden. Daraufhin hat der Gesetzgeber einen Gesetzesvorschlag zur „medizinisch assistierten, freiwilligen Selbsttötung“ vorgelegt, der seit Dezember im Parlament debattiert und über den möglicherweise bereits in den kommenden Wochen abgestimmt wird. Parallel dazu hat der Verein „Luca Coscioni“ ein Referendum zur Legalisierung der Euthanasie gefordert. Eine entsprechende Petition wurde mit über 1,2 Millionen Stimmen an den Obersten Gerichtshof übermittelt – das Mindestquorum liegt bei 500 000 Stimmen. Das Referendum wollte die aktive Sterbehilfe legalisieren und sie allein an die freie und informierte Zustimmung der volljährigen, zurechnungsfähigen Person knüpfen. Bei Erfolg des Referendums, so befürchtete Casalone im Januar, würden keine weiteren gesetzlichen Auflagen folgen, die die Möglichkeit der Tötung eines willigen, aber an sich gesunden Menschen einschränken. Inzwischen ist das Referendum vom Verfassungsgericht abgelehnt worden.

Widerspruch zum kirchlichen Lehramt

Casalone sprach sich für eine Unterstützung des im Vergleich zum Referendum restriktiveren Gesetzesentwurfs aus, um einen „unvollkommenen und an sich problematischen Damm“ zum Schutz des Lebens zu bilden. Die Frage sei, „ob man den Gesetzesentwurf als Ganzes negativ bewerten soll, mit dem Risiko, eine Liberalisierung der Tötung des Sterbenswilligen durch das Referendum zu begünstigen, oder ob man versuchen kann, den Gesetzesentwurf durch eine Änderung der schädlichsten Bestimmungen weniger problematisch zu machen“. Die Toleranz eines „unvollkommenen Gesetzes“ könne durch ihre Pufferfunktion einer noch schädlicheren Bestimmung gegenüber begründet werden. Casalone argumentiert in einem konkreten Fall und einer akuten Situation für ein kleineres Übel, den restriktiven Gesetzesvorschlag, um ein größeres Übel, nämlich das Referendum, zu vermeiden. Knapp 60 Organisationen des Lebensschutzes haben sich in einer Stellungnahme gegen die Position Casalones ausgesprochen, die dem kirchlichen Lehramt widerspreche, und argumentierten, dass auch der Gesetzesentwurf einen Schritt in Richtung Legalisierung der Euthanasie bedeute. Es sei, so die Stellungnahme, „erstaunlich, dass eine maßgebliche Publikation, von der man ein Echo des kirchlichen Lehramtes erwartet, Positionen behauptet, die – wenn auch indirekt – in der Tat jener ,Kultur des Wegwerfens‘ das Feld überlassen könnten, vor deren negativen Auswirkungen Papst Franziskus ständig warnt.“

Bis dahin ließ noch nichts vermuten, dass es sich um mehr als eine Einzelposition in einem ganz konkreten Kontext handelte. Aufhorchen ließ allenthalben der Hinweis Casalones auf die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020, welches bis heute darauf wartet, in eine gesetzliche Form gegossen zu werden. Dem Jesuiten ist also durchaus bewusst, dass seine Überlegungen tendenziell auf andere Länder übertragen werden können. Eine andere Dimension erhielt die Diskussion durch den Beitrag Marie-Jo Thiels in „Le Monde“ vom 31. Januar. Thiel verteidigt die Argumentation Casalones und betont, der Moraltheologe beziehe sich nicht nur auf Italien, sondern leiste einen Beitrag zur Debatte um Euthanasie auch in anderen Ländern. Den „Befürwortern der absoluten Heiligkeit des Lebens“ hält sie entgegen, dass ein zu hohes Ziel oft ein schlechteres Ergebnis nach sich ziehe.

Debatte in einer pluralen Gesellschaft

Laut „La Croix“ sei der Artikel Marie-Jo Thiels mit Zustimmung seitens ihres Kollegen Carlo Casalone erfolgt. Der Vatikankorrespondent der katholischen Tageszeitung hat das Gespräch mit Renzo Pegaro, dem Kanzler der Päpstlichen Akademie für das Leben gesucht. Die Kirche verurteile weiterhin sowohl den assistierten Suizid als auch die Euthanasie, zitiert „La Croix“ den Bioethiker. Die Frage sei, wie die Kirche an der Debatte in einer pluralen Gesellschaft teilnehmen könne: „Entweder man tritt in die Debatte ein und versucht, das bestmögliche Gesetz zu fördern, oder man hält sich aus jeder Diskussion heraus und beschränkt sich auf die Bekräftigung von Grundsätzen, mit dem Risiko, ein noch schlechteres Gesetz durchgehen zu lassen.“ Das Dilemma sei, ob man an der Aushandlung eines „unvollkommenen Gesetzes“ teilnehme, oder ob man das Risiko eingehe, Argumente anzuwenden, die in einer zu liberalen Gesellschaft unhörbar geworden seien. „La Croix“ zieht die Schlussfolgerung, dass es sich hier um eine strategische Wendung handle, die von Papst Franziskus abgesegnet sei: Seit Beginn seines Pontifikats habe Franziskus immer wieder darauf hingewiesen, dass die Morallehre der Kirche keinen Vorrang vor der Verkündigung des Evangeliums haben darf, schreibt der Vatikankorrespondent von „La Croix“. Tatsächlich erscheint die Jesuitenzeitschrift „La Civilta Cattolica“ nicht, ohne von der Behörde des Kardinalstaatssekretärs Pietro Parolin abgesegnet worden zu sein. Der Chef der Jesuitenzeitschrift, Antonio Spadaro, gilt als Vertrauter des Papstes.

Franziskus selbst hat sich wiederholt eindeutig gegen jegliche Form des assistierten Suizids positioniert, so auch kürzlich bei der Generalaudienz am 9. Februar. Im Rahmen einer Katechese zum heiligen Josef als Patron der Sterbenden wies er darauf hin, dass die Palliativmedizin als die Hilfe, die die Medizin dem Menschen im letzten Abschnitt eines Lebens leistet, nicht mit einem inakzeptablen Abgleiten ins Töten verwechselt werden dürfe. „Wir müssen Menschen in den Tod begleiten, aber nicht den Tod herbeiführen oder Beihilfe zum Selbstmord leisten.“ Das Leben sei ein Recht, „nicht der Tod, der angenommen werden muss und nicht ‚verabreicht‘ werden darf“. Dieser ethische Grundsatz gelte für alle Menschen unabhängig von Religion und Weltanschauung.

Lehre gegen Pastoral?

Ob mit päpstlichem Placet oder nicht, die Argumentation Casalones wird nachdrücklich von verschiedenen Mitgliedern der Päpstlichen Akademie für das Leben vertreten. Ein Debattenbeitrag zu einem konkreten Fall hat sich zu einer Reflexion über die Rolle und die Möglichkeiten der kirchlichen Stimme in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausgeweitet. Handelt es sich hier tatsächlich um eine Positionsänderung des Vatikans? Und wenn ja, ist in ihr ein Dammbruch zu sehen, der kirchliche Lehre und Pastoral gegeneinander ausspielt oder tut sich eine Möglichkeit auf, ein irreversibles Auseinanderleben von Kirche und Gesellschaft zu vermeiden? Es wird aufmerksam abzuwarten sein, wer sich zukünftig auf welcher Seite in die Thematik einschaltet.

 

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