Noch bis Jahresende hat der Gesetzgeber in Österreich Zeit, juristische Dämme zu errichten, um die Beihilfe zum Suizid in klaren, möglichst engen Grenzen zu halten. Diese Frist hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) eingeräumt, als er am 11. Dezember des Vorjahres die Strafandrohung für die „Hilfeleistung zum Selbstmord“ (Paragraf 78 Strafgesetzbuch) aufhob. Abgewiesen wurden damals die zeitgleichen Klagen gegen das Verbot der „Tötung auf Verlangen“ (§ 77 StGB). Auch die Anstiftung zur Selbsttötung bleibt in Österreich strafbar. Bisher lautete § 78 StGB: „Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“ Aufgehoben wurde nur der Halbsatz „oder ihm dazu Hilfe leistet“.
All das ruft nach einer detailgenauen gesetzlichen Regelung. Sollte das Parlament nämlich bis Jahresende untätig bleiben, wäre ab 1.1.2022 in Österreich jede Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt: „Egal, ob aus Liebeskummer, Privatkonkurs oder aus sonstigen Gründen, egal ob mit Pistole, Seil oder Brückensprung“, wie die Juristin Stephanie Merckens formuliert.
Recht auf ein menschenwürdiges Sterben
Die Urteilsbegründung der Höchstrichter belegt, dass der VfGH nicht bloß eine neue Rechtslage schaffen wollte, sondern deren detaillierte Ausgestaltung durch den Gesetzgeber dezidiert wünscht: Die freie Selbstbestimmung des Menschen umfasse auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben. Dies schließe – so die Argumentation – die Entscheidung des Betroffenen darüber ein, ob und auf welche Weise er sein Leben beenden möchte. Die Selbstbestimmung inkludiere auch das Recht eines Suizidwilligen, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten anzunehmen, wenn er darauf angewiesen ist. Jedoch müsse jede Hilfeleistung zur Selbsttötung „auf einer dauerhaften Entscheidung beruhen“ – gemeint ist die Entscheidung des Suizidanten.
Unabhängig davon, ob man der philosophischen Prämisse des Urteils folgt, rufen diese Formulierungen nach juristischer Klärung: Wer zieht eine dokumentierbare Grenze zwischen Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen? Wie definiert sich die Bereitschaft des helfenden Dritten? Was ist eine „dauerhafte Entscheidung“ zum Suizid und wer prüft, überprüft oder dokumentiert diese Dauerhaftigkeit? Weil die Richter die vermeintliche Liberalisierung mit der Selbstbestimmung des Betroffenen argumentierten, forderten sie den Gesetzgeber zugleich auf, Maßnahmen gegen möglichen Missbrauch vorzunehmen, damit die Entscheidung nicht durch andere beeinflusst oder herbeigenötigt ist. Nicht nur zum Schutz des Suizidanten, sondern auch des Helfers hat der Gesetzgeber klar zu definieren, was unter welchen Umständen als berechtigter Beistand, was dagegen als unzulässige und somit strafbare Beeinflussung zu gelten hat.
Voraussetzungen für eine straffreie Mitwirkung
Während die Regierungsparteien ÖVP und Grüne mit ihren Beratungen über die Neuregelung noch nicht begonnen haben, sortiert das „Salzburger Ärzteforum für das Leben“ im Rahmen seiner „Salzburger Bioethik-Dialoge“ bereits die juristischen Aspekte. Hier stellte der Wiener Straf- und Strafprozessrechtler Peter Lewisch klar, dass es für den Suizidwilligen selbst zu jeder Zeit straflos war, die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen – nur eben nicht für jenen Dritten. Die Aufgabe des Gesetzgebers bestehe nach dem Urteil darin, die Voraussetzungen für eine straffreie Mitwirkung zu definieren. So könne er eine Altersgrenze einziehen, „die auch über der Volljährigkeit liegen kann“. Von „Stellschrauben“, die der Gesetzgeber unterschiedlich ausgestalten könne, spricht der Jurist, für den etwa die Mitwirkung eines Älteren an der Selbsttötung eines 13-Jährigen stets als Mord zu werten wäre.
Lewisch hat ein grundsätzlicheres Problem mit dem Urteil: Die meisten Suizide seien Ausdruck eines psychischen Problems, doch der VfGH spreche den depressionsgetriebenen Suizid gar nicht an. „In welcher Welt lebt der Verfassungsgerichtshof eigentlich?“, fragte Lewisch und forderte: „Wenn es wirklich selbstbestimmt sein soll, muss man alle depressionsgetriebenen Suizide herausfiltern.“ Insbesondere am Lebensende seien Menschen vulnerabel. Da komme es dann darauf an, ob man einem Menschen suggeriert, „dass es kein Unglück wäre, wenn er aus dem Leben schiede“, oder ihm empathische Zuwendung zuteil werden lässt, bei der sich der Suizidwunsch dann meist verflüchtige.
Das Risiko der Strafbarkeit liegt beim Suizidhelfer
Auch auf die Frage, wer Suizidbeihilfe leisten darf, gibt das Urteil keine Antwort. Das „Bild“ des Höchstgerichts sei das des ärztlich begleiteten Suizids, so Lewisch. Definiert ist das nicht. Klar sei: „Es gibt keine Verpflichtung des ärztlichen Personals. Wer nicht dazu bereit ist, kann und darf nicht in die Pflicht genommen werden.“ Lewisch wies darauf hin, dass das Risiko der Strafbarkeit beim Suizidhelfer liege. Er habe zu klären, ob die Voraussetzungen für eine straflose Mitwirkung gegeben sind. So sei etwa die psychische Bestärkung eines noch nicht final zum Suizid entschlossenen Menschen jedenfalls strafbar. Hier sei ein Grenzbereich, in dem sich „der Gesetzgeber durchaus etwas einfallen lassen“ könne. Lewisch bilanzierte, es habe seitens der Politik keinen Applaus für das Urteil der Verfassungsrichter gegeben. Von seiner Seite auch nicht: „Das nehme ich dem Verfassungsgerichtshof übel, dass er sich eingedenk des politischen Konsenses mit dieser dünnen Begründung zum Super-Gesetzgeber gemacht hat.“
Der Salzburger Strafrechtler Kurt Schmoller wies bei den „Salzburger Bioethik-Dialogen“ darauf hin, dass es nicht rechtswidrig ist, sich selbst zu töten. Es gebe aber auch keinen Anspruch auf Hilfeleistung dabei – weder gegenüber dem Staat noch gegenüber Dritten. Sollte der Gesetzgeber bis Jahresende nicht tätig werden, gelte in Österreich dieselbe Rechtslage wie in Deutschland, warnte Schmoller. Der Gesetzgeber könne untätig bleiben, solle nach Ansicht der Richter aber handeln. Und zwar zur Absicherung der vom VfGH postulierten Autonomie des Suizidwilligen. So könnte der Mitwirkende verpflichtet werden, die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Suizidwunschs zu klären. Ebenso könne der Gesetzgeber die Straffreiheit auf Suizidbeihilfe am Lebensende und bei schwer leidenden Personen begrenzen. Einen „Paternalismus“ lehne der VfGH ab: Dass eine andere Person als der Sterbewillige entscheidet, ob der Suizidwunsch berechtigt ist, stehe in einer Spannung zur Selbstbestimmung.
Die temporäre Autonomie
Das Hauptproblem sieht Schmoller in der vom VfGH geforderten Dauerhaftigkeit des Sterbewunschs: „Vorstellungen und Wünsche ändern sich.“ Der Mensch habe nur eine temporäre Autonomie für eine bestimmte Lebensphase, könne aber nicht abschätzen, wie er seine Autonomie in zehn Jahren ausleben wolle. „Viele würden gerne sterben, später aber doch wieder gerne leben. Wo es um das Leben oder um körperliche Verstümmelung geht, müsste der Gesetzgeber eine Abwägung treffen zwischen der temporären Autonomie und der Möglichkeit, später autonom anders zu entscheiden.“ Schmoller meint, der Gesetzgeber habe die Pflicht, den Menschen vor seiner „temporären Autonomie“ zu schützen. Es gebe auch „Fälle einer finalen Autonomie, also der Sicherheit, dass sich der Wille nicht mehr ändern würde“. Das setze voraus, dass ein Mensch in der letzten Lebensphase ist.
Wie bei der Abtreibung bestehe nun eine Gefahr darin, „dass Kliniken sich entschließen, Sterbehilfe zu leisten, und das Personal in einen Gewissenskonflikt gerät“, meint Schmoller. Hier dürfe niemand benachteiligt werden, der am Suizid mitwirkt – oder eben nicht. Grundsätzlich findet der Strafrechtsexperte die Argumentation des VfGH mit der Selbstbestimmung „neuartig und nicht notwendig“. Er kritisiert, dass die zeitliche Dimension (die temporäre Autonomie) nicht berücksichtigt wurde. Auch könne vielfach psychisch ausgeschlossen sein, dass eine Person entscheidungsfähig ist. Doch wie sehr ist der Tötungswunsch einer psychisch beeinträchtigten Person Ausdruck ihrer Selbstbestimmung?
Bischöfe: Urteil ist kultureller Dammbruch
Schneller als die politischen Parteien hat die Österreichische Bischofskonferenz Mitte März juristische Vorschläge auf den Tisch gelegt. Zwar sind die Bischöfe nach wie vor klar gegen jede Form des assistierten Suizids und geißeln das Urteil des VfGH als „kulturellen Dammbruch“, doch inspirieren sie jetzt den Gesetzgeber, um „eine lebensgefährliche Dynamik zu verhindern, die bisher in allen Ländern eingetreten ist, wo der unbedingte Schutz des Lebens gelockert wurde“. Nun müssten „die Suizidprävention als staatliches Gesundheitsziel“ gesetzlich abgesichert sowie eine flächendeckende, wohnortnahe und leistbare Palliativversorgung garantiert werden. Der Gesetzgeber müsse „in klaren gesetzlichen Regelungen Suizidwillige sowohl vor der Einflussnahme durch andere schützen, als auch mit einer verpflichtenden Beratung Klarheit über die eigene Situation vermitteln“, heißt es in einer Stellungnahme der Bischöfe. Es brauche viel Aufklärung, Beratung und Information, etwa über Krankheits-Prognosen und Palliativ-Optionen.
Auch zur Frage des Suizidhelfers äußert sich die Bischofskonferenz: „Assistierter Suizid darf unter keinen Umständen als ärztliche Leistung oder sonst eine Leistung eines Gesundheitsberufes etabliert werden.“ Auch dürfe „niemand zur direkten oder indirekten Mitwirkung an einem Suizid gedrängt werden“. Die Mitwirkung des Schweizer Sterbehilfevereins Dignitas an den Klagen gegen die Gesetzeslage ist den Bischöfen nicht verborgen geblieben: „Schon gar nicht darf aus der Beihilfe zum Suizid eine Geschäftemacherei werden. Die Förderung der Selbsttötung sollte in unserem Land nicht als Vereinszweck akzeptiert werden.“ Das zumindest könnte unterbunden werden, da die Verleitung zur Selbsttötung – darunter fällt wohl die entsprechende Vereinswerbung – in Österreich, anders als in Deutschland, weiter strafbar ist.
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