Krems

Psyche im Ausnahmezustand

Ängste, Depressionen, Schlafstörungen, Einsamkeit – Wer bisher Psychotherapie benötigte, leidet in der Corona-Pandemie gleich mehrfach.
Studie zum Stress
Foto: Oliver Berg (dpa) | Die Corona-Krise sorgt für psychischen Stress. Das trifft Menschen mit Vorerkrankungen, aber auch andere.

Die Corona-Pandemie hat zu einem signifikanten Anstieg psychischer Leiden geführt. Das lässt sich nun wissenschaftlich belegen. Eine Studie der Donau-Universität Krems und des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP) belegt, dass bereits nach zwei Wochen Ausnahmezustand 70 Prozent der Psychotherapie-Patienten ausschließlich über negative Auswirkungen der Maßnahmen gegen COVID-19 berichteten: Von Angst, Einsamkeit und Isolation war da die Rede. 16,3 Prozent berichteten über negative und positive Auswirkungen der Maßnahmen, nur 8,5 Prozent sahen keine Auswirkungen. Die psychischen Symptome wurden nicht nur stärker, es kehrten auch überwunden geglaubte Traumata zurück. Für die Studie wurden 6 000 berufsberechtigte Psychotherapeuten in Österreich angeschrieben; 1 547 gaben Auskunft.

Einsamkeit und finanzielle Sorgen

Während ältere Patienten über Isolation und Einsamkeit klagen, bedrängen Jüngere die Sorgen um ihre wirtschaftliche Existenz, erklärt ÖBVP-Präsident Peter Stippl im Gespräch mit der „Tagespost“: Viele Junge hätten auf Kredit ein Haus gebaut und seien nun arbeitslos oder in Kurzarbeit. Sie stünden unter wirtschaftlichem Druck. „Wenn jemand wirtschaftlich sehr fragil aufgestellt war oder gesellschaftlich isoliert ist, dann ist das Bedrohliche viel stärker bewusst und wird als belastend empfunden.“

Doch nicht nur die bisherigen Patienten der Psychotherapeuten spüren stärkere Belastungen. Auch bislang psychisch stabile Menschen leiden. „Das ist ganz sicher so“, bestätigt Stippl, dessen Verband psychotherapeutische Hotlines in allen österreichischen Bundesländern eingerichtet hat. Obwohl die Situation regional höchst unterschiedlich ist, hätten sie überall einen „deutlichen Anstieg“ festgestellt. „Nicht nur bestehende Patienten haben verstärkt Symptome bekommen: Ängstliche haben noch mehr Angst, Depressive sind noch depressiver. Es sind auch bisher unbelastete Menschen in die Psychotherapie gekommen.“ Und zwar binnen zwei Monaten so viele wie sonst im ganzen Jahr.

Therapie per Skype

Vor der Corona-Krise durften moderne Kommunikationsmittel in Österreich für Beratungen, nicht aber für Psychotherapien eingesetzt werden. Mit den Anti-Corona-Maßnahmen gestatteten das Gesundheitsministerium und die Sozialversicherungen Therapien über Telefon, Zoom oder Skype. Laut Donau-Universität Krems stiegen die Behandlungen via Telefon um 979, über Internet-basierte Dienste sogar um 1 561 Prozent. Ein weiterer Anstieg sei nötig, um die erhöhten psychischen Belastungen in der Bevölkerung in Corona-Zeiten versorgen zu können.

Stippl ortet Probleme dabei nicht nur in der Skepsis der Patienten, sondern auch seitens der Psychotherapeuten: „Insgesamt werden 30 Prozent weniger Psychotherapien abgehalten, weil ein Teil der Kollegen diese Methoden skeptisch sieht.“ Es gehe meist darum, wie positiv der Therapeut den Einsatz von Telefon und Internet sieht und darstellen kann. „Beide Seiten müssen sich erst an diese neue Form der Psychotherapie gewöhnen.“

Radikale Maßnahmen

Ob die drohende Ansteckung mit dem Corona-Virus mehr Angst macht und Störungen auslöst, oder die Maßnahmen der Regierung, ist kaum zu beantworten: „Die Maßnahmen der Regierung, und auch die damit verbundene Wortwahl, waren ziemlich radikal“, räumt Stippl ein. „Andererseits gehört Österreich zu den Ländern mit den wenigsten Toten und Intensivstationpatienten pro Einwohner.“ Dennoch waren die Maßnahmen und die Wortwahl „Angst machend“. Thomas Probst, Professor am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems, meint gegenüber dieser Zeitung: „Die Maßnahmen sind effektiv, wie eine andere Studie unserer Uni zeigt und daher auch wichtig. Wir können nicht sagen, ob es am Virus oder an den Maßnahmen oder an beidem liegt. Um das zu untersuchen, müssten wir eine Studie durchführen, die nicht möglich ist.“

Mehr Depressionen in UK

Aufschlussreich ist jene Studie, die die Donau-Universität in Zusammenarbeit mit der University of Sheffield durchführte: Sie belegt, dass Großbritannien im Vergleich zu Österreich einen signifikant höheren Anstieg psychischer Erkrankungen hat. Im Vereinigten Königreich, das die höchsten Corona-Todesziffern in Europa hat, leiden 25 Prozent unter einer schweren depressiven Symptomatik, in Österreich nur acht Prozent.

Solche Unterschiede zeigen sich laut dieser Studie auch bei der Lebensqualität, dem Wohlbefinden, den Schlafstörungen und den Ängsten. Insgesamt sei Großbritannien psychisch dreimal schwerer betroffen als Österreich. Diese Unterschiede seien schwer zu erklären, meint Professor Probst zur „Tagespost“. Er vermutet, das Königreich könnte „durch den Brexit generell in einer vulnerablen Phase stecken, unabhängig von COVID-19. Es könnte aber auch sein, dass durch die hohen Todeszahlen die psychischen Belastungen höher sind.“

Junge Erwachsene hoch belastet

Die Studie der Donau-Universität belegt, dass depressive Symptome, Ängste und Schlafstörungen insbesondere bei Erwachsenen unter 35 Jahren, Frauen, Singles und Arbeitslosen signifikant gestiegen sind. Depressionen stiegen in Österreich von vier auf über 20 Prozent, Angstsymptome von fünf auf 19 Prozent. Dass Menschen über 65, also die viel zitierte Hochrisikogruppe, hier weniger betroffen ist als Erwachsene unter 35, bezeichnet der Studienautor, Professor Christoph Pieh, als „alarmierend“.

Thomas Probst verweist gegenüber der „Tagespost“ auf Untersuchungen in anderen Ländern, die ebenfalls belegen, „dass junge Erwachsene auch schon vor COVID-19 die meisten psychischen Belastungen haben“. Es sei zu erwarten gewesen, dass die Über-65-Jährigen die größten psychischen Probleme haben, „da das Virus körperlich für diese Gruppe am gefährlichsten ist“. Dass es die Jüngeren härter traf, erklärt Probst damit, dass bei den jungen Erwachsenen das „psychische Wohlbefinden stärker von sozialen Kontakten abhängt“.

Resilienzdefizite

Der Präsident des Bundesverbands für Psychotherapie, Peter Stippl, hat zwei weitere Erklärungen: Die psychischen Folgen hätten mehr mit den wirtschaftlichen denn mit den medizinischen Aussichten zu tun. „Psychische Belastungen korrelieren mit materieller Belastung, weil die wirtschaftlichen Sorgen ein zusätzlicher Stressfaktor für ohnehin schon belastete Menschen sind.“ Dazu kommt ein „Resilienzdefizit“: Es gebe zwar Menschen, die stark genug sind, Krisen zu bewältigen, aber andere, die viel Hilfe brauchen. Laut internationaler Klassifikation ist ein Trauma die Konfrontation mit einer Situation, für die man keine positive Bewältigungserfahrung hat, erläutert Stippl. Darum hätten Menschen, die früh Verzicht und Verlust erfahren, eine andere Resilienz entwickelt als jene, „für die das Schwerste, das sie zu bewältigen hatten, der Tod ihres Hamsters war“.

Das Mäntelchen der Scheinsicherheit

Der Psychotherapeut weiß, warum die Corona-Debatte zu immer hysterischeren Wellen und den „verrücktesten Erklärungsmodellen“ führt: „Der Gruselfilm ist solange gruselig als man das Ungeheuer nicht sieht. In dem Moment, da das Ungeheuer sichtbar wird, ist es lustig bis peinlich. Das wissen die Menschen unbewusst, darum schaffen sie sich konstruierte Pseudo-Ungeheuer – das ist besser als das Unbekannte.“ Es geht darum, Angst zu limitieren: „Egal wie irrational es ist, aber wenn das Ungeheuer bekannt ist, muss man sich weniger fürchten.“ Es gehe um ein „Mäntelchen der Scheinsicherheit“, um eine „Vogelscheuche“, an der sich Verunsicherte in einer Situation der Unsicherheit festhalten können.

Ob gestiegene psychische Belastungen bald wieder nachlassen oder weiter ansteigen, lässt sich empirisch schwer sagen. Thomas Probst legt sich gegenüber der „Tagespost“ nicht fest: „Es könnte sein, dass bei einer zweiten Welle psychische Belastungen weiter aufflackern oder aber, dass die Menschen sich an die Situation gewöhnen und dann gar nicht mal mehr so viele neue psychischen Probleme entstehen.“ Peter Stippl sieht das kritischer: „Ich glaube, dass wir psychisch noch nicht am Höhepunkt der Belastungssituation sind.“

Warnung vor den Langzeitfolgen

Er vergleicht die Lage mit der Situation eines Marathonläufers, der zusammenbricht, nachdem er das Ziel erreicht hat. „Diesen psychischen Zusammenbruch befürchte ich für die Zeit zwischen August und Oktober.“ Begründung: „Der Sommer wird nicht so, wie wir das kennen. Wir werden nicht frei reisen können, und auch am Ziel wird es nicht so sein wie immer.“ Zudem werde die Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten erst richtig spürbar werden. „Die Belastung durch Arbeitslosigkeit steigt überproportional mit der Dauer. Es ist nicht so, dass die Krise irgendwann feierlich eröffnet wurde und nun wieder geschlossen wird – und dann ist alles wie zuvor.“ Die Langzeitfolgen würden zumindest zwei Jahre dauern.

Eine signifikante Zunahme psychischer Belastungsphänomene durch die Pandemie und die Anti-Corona-Maßnahmen stellen zwei aktuelle wissenschaftliche Studien fest. Vor allem Ängste, Einsamkeit und Isolation sind massiv gewachsen. Das Ende der die Psyche belastenden Krise ist noch lange nicht in Sicht.

 

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Stephan Baier

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