Kritik an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hat in Deutschland keine besondere Tradition. Das ist selbst in einer Staatskonzeption, die die Meinungsfreiheit großschreibt, insofern verständlich, als höchstrichterliche Urteile auch für Rechtsfrieden sorgen sollen. Was – aus Gründen der Staatsräson – also durchaus einleuchtet, hat jedoch einen Pferdefuß. Nicht nur, weil auch Verfassungsrichter Menschen und als solche genauso irrtumsanfällig wie alle anderen sind. Sondern auch, weil sich (Rechts-)Frieden, wie Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. am Ende des 7. Kapitels seiner Jesus-Trilogie ausführt, in dem er den „Prozess Jesu“ vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus behandelt, weder gegen die Gerechtigkeit noch gegen die Wahrheit schaffen lässt.
Anhaltende Kritik
So gesehen wundert es denn auch nicht, dass die Kritik am Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem dessen Zweiter Senat am Aschermittwoch das vom Deutschen Bundestag beschlossene „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ für verfassungswidrig und den § 217 StGB für nichtig erklärte, auch nun nicht abreißt, da Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein „legislatives Schutzkonzept“ erarbeiten lässt und Ärztevertreter, Verbände und die Kirchen in einem Schreiben, das dieser Zeitung vorliegt, bat, seinem Haus „Vorstellungen und Vorschläge zu wesentlichen Eckpunkten einer möglichen Neureglung der Suizidassistenz“ zukommen zu lassen.
So kritisierte etwa der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff in einem Beitrag für die Mai-Ausgabe der von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Reihe „Analysen & Argumente“, mit ihrem Urteil hätten die Karlsruher Richter, „einen neutralen Standpunkt oberhalb unterschiedlicher inhaltlicher Festlegungen der Menschenwurde“ verlassen „und sich ein weltanschauliches Verstandnis zu eigen“ gemacht, welches die Menschenwürde „mit prinzipiell unbeschrankter individueller Selbstbestimmung gleichsetzt“. Durch die „Auslegung der Menschenwurde-Garantie im Sinne schrankenloser Autonomie und Selbstverfugung“ verwerfe „das oberste Gericht zugleich die Konkordanzformel, die dem Anfang 2015 vom deutschen Parlament beschlossenen Gesetz zur Strafbarkeit der geschaftsmaßigen Forderung der Selbsttotung zugrunde lag.“
"Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum ‚ureigensten Bereich der Personalität‘ des Menschen."
Zweiter Senat des BVerfG
Und weiter heißt es: „Wie der Zweite Senat in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 selbst anfuhrt, stand das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bei seiner Prufung des § 217 StGB vor der Aufgabe, die Kollision zwischen dem Selbstbestimmungsrecht derjenigen, die sich fur die eigene Lebensbeendigung entscheiden und dafur die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen wollen, mit dem fundamentalen Schutzgut des Lebens aufzulosen. Dieser Aufgabe hat sich das Gericht am Ende auf eine fur viele uberraschende, geradezu handstreichartige Weise entzogen, indem es eine neue Letztbegrundung der Freiheit zum Suizid proklamierte.“
Aufwertung selbstbestimmten Sterbens
Statt den „mühsamen Weg der Abwägung kollidierender Rechtsgüter“ zu beschreiten, lasse die Urteilsbegründung „oberste Rechtsprinzipien wie die Menschenwürde, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die allgemeine Handlungsfreiheit durch einfache Ableitung auseinander hervorgehen“, wodurch „das Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ eine „erstaunliche Aufwertung“ erfahre. „Durch die sprachliche Emphase“, mit welcher das BVerfG, „selbstbestimmtes Sterben als höchstmöglichen Freiheitsvollzug der Person“ beschreibe, verliehen die Richter des Zweiten Senats „der Entscheidung zum Suizid einen besonderen Rang, der seiner Idealisierung als Freitod in vielen philosophischen Strömungen seit der Antike zumindest nahekommt“.
So schreiben die Richter in den Kernsätzen der Urteilsbegründung etwa: „Das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen, stellt sicher, dass der Einzelne über sich entsprechend dem eigenen Selbstbild autonom bestimmen und damit seine Persönlichkeit wahren kann. (Rn. 209) (...) Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziert gerade, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. (...) Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum ‚ureigensten Bereich der Personalität‘ des Menschen, in dem er frei ist, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu entscheiden. Dieses Recht besteht in jeder Phase menschlicher Existenz (Rn. 210). (...) Der mit freiem Willen handelnde Suizident entscheidet sich als Subjekt für den eigenen Tod. Er gibt sein Leben als Person selbstbestimmt und nach eigener Zielsetzung auf. (...)Der Mensch bleibt nur dann als selbstverantwortliche Persönlichkeit, als Subjekt anerkannt, sein Wert- und Achtungsanspruch nur dann gewahrt, wenn er über seine eigene Existenz nach eigenen, selbstgesetzten Maßstäben bestimmen kann.“ (Rn. 211)
Absolutes Verständnis von Autonomie
Es liegt auf der Hand, dass ein solches Verständnis von Menschenwürde, Selbstbestimmung und Autonomie nur mit einigen bestimmten, geradezu handverlesenen Menschenbildern kompatibel ist. So lässt sich zum Beispiel problemlos vorstellen, dass Epikur, Friedrich Nietzsche oder auch ein Gabriele D‘Annunzio zu Lebzeiten durchaus Gefallen an dem Urteil der Verfassungsrichter gefunden hätten. Dass hingegen auch Platon, Immanuel Kant oder Ludwig Wittgenstein den Richtern applaudiert hätten, kann hingegen als ausgeschlossen gelten. Von der reichen Tradition christlicher Denker – angefangen bei Augustinus und Thomas Aquin über Edith Stein und Romano Guardini, bis hin zu Elizabeth Anscombe, Karol Wojtyla und Robert Spaemann – ganz zu schweigen.
Überhaupt wäre zu fragen, ob ein derart absolutes Verständnis von Autonomie, wie es in dem Urteil des BVerfG zum Ausdruck kommt, nicht pure Fiktion bleiben muss? Auch wer, anders als etwa Kant, Autonomie frei von Pflichten gegen sich selbst denkt, auch, wer sich – im Gegensatz zu christlichen Denkern – als Eigentümer seines Lebens versteht und dabei die Frage ausklammert, wann und wodurch er dieses Eigentum eigentlich erworben hätte, muss sich die Frage gefallen lassen, wie es möglich sein soll, ausgerechnet die Vernichtung des eigenen Selbst als Akt zu betrachten, mit dem dieses sich bestimme?
Zwar lässt sich der Gedanke denken, es wäre besser, nicht zu sein. Nur ist er ein völlig unsinniger. Denn wo nichts ist, kann es ein „besser“ gar nicht geben. Nun werden die meisten Menschen sicher zugestehen, dass – jenseits des anspruchsvollen christlichen Weltbildes, das den Kosmos als Schöpfung versteht und im Menschen den von Gott nach seinem eigenen Ebenbild Geschaffenen und von ihm Angerufenen erblickt – etwas nicht erleiden zu wollen und sich diesem Leid entziehen zu wollen, etwas durch und durch Menschliches sei. So gibt es vermutlich niemanden, der etwa Liebeskummer für eine Erfahrung hält, die unbedingt anzustreben wäre. Der eine oder andere mag daraus den traurigen Schluss ziehen, um diese Erfahrung zu vermeiden, sei es besser, überhaupt niemanden zu lieben. Natürlich wäre dann zu fragen, ob jemand, der so verführe, sich tatsächlich selbst bestimmte oder nicht vielmehr seiner Angst gestattete, ihn zu bestimmen. Aber angenommen, der Betreffende reflektierte darüber und entschiede sich dennoch, so überhaupt möglich, so zu verfahren, wären vermutlich doch viele Menschen geneigt, dies als eine – wenn auch wenig gelungene und verkrüppelte – Form von Autonomie oder Selbstbestimmung, zu akzeptieren.
Suizid nicht glorifizieren
Und falls es möglich wäre, sich in analoger Weise für einen Suizid zu entscheiden, könnte man, wie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, auch für die Selbsttötung Autonomie beanspruchen. Nur ist das eben unmöglich. Eine Existenz ohne Liebe ist zwar etwas sehr Furchtbares und etwas, das zumindest im Kontext des Christentums als verfehlt betrachtet werden müsste. Da jedoch die allermeisten Menschen zumindest irgendwann auch einmal die Erfahrung von Neid, Hass und Gewalt machen, können sie sich von einem Leben ohne Liebe wenigstens einen Begriff machen. Einen, der es ihnen zumindest theoretisch ermöglichen würde, ein solches Leben auch tatsächlich zu erstreben, und sei es nur, um damit ein anderes, als noch unvorteilhafter Erachtetes zu vermeiden.
Eine derart reduzierte Sicht auf Autonomie lässt sich jedoch, wo es um die Selbsttötung geht, nicht einmal entwickeln. Denn da der Tod nun einmal die Abwesenheit von Leben ist, und der Mensch sich nicht anders als Lebender erfährt, ist es schlechterdings nicht möglich, im Suizid eine Handlung zu erblicken, die der Suizident autonom erstrebte und mit der er sich selbst bestimmte. Anders formuliert: Es gibt überhaupt keine radikalere Weigerung, sich selbst zu bestimmen, als den Suizid.
Das zwingt die Rechtsordnung eines sich selbst als weltanschaulich neutralen Staat begreifenden Gemeinwesens zwar noch nicht, den Suizid zu verbieten oder gar zu bestrafen. Es verbietet den Hütern seiner Verfassung jedoch, den Suizid zu glorifizieren, als selbstbestimmt und autonom auszugeben oder gar zum Kern der Menschenwürde umzumünzen. Wo dies dennoch geschieht, legen sie sich mit der Wahrheit selbst an und schaffen daher statt Rechtsfrieden Streit.
„Der Selbstmörder will das Leben“
Nichtsein ist kein Wert, den ein geistig gesunder Mensch erstreben kann. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Nur wer geistig ernsthaft erkrankt oder zumindest narzisstisch gestört ist – eine genaue Einordnung muss Sache von Sachverständigen bleiben – kann sich einreden, die Nichtexistenz, von der er, da beim Sterben alle Anfänger sind, überhaupt keine zureichende Vorstellung besitzen kann, zu erstreben. Für alle anderen gilt, was schon Arthur Schopenhauer, dessen Vater sich ertränkte, wusste: „Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter den es ihm geworden.“
In dem 2017 erschienenen Blockbuster „John Wick 2“ schneidet sich die von Claudia Gerini gespielte Chefin der italienischen Mafia, Gianna D‘Antonio, im Angesicht des von ihrem Bruder gedungenen Auftragsmörders John Wick (Keanu Reeves) die Pulsadern auf. Auf Wicks Frage nach dem Warum, lügt sie selbst im Angesicht des Todes: „Mein Leben hat nie jemand anderes bestimmt als ich.“ Es scheint, als reiche der Autonomiebegriff des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts auch nicht weiter. Armes Deutschland.
Kurz gefasst:
Wer behauptet, man könne etwas erstreben, von dem man gar keinen Begriff haben kann, macht sich und anderen etwas vor. Das ist nicht verboten. Es ist jedoch unredlich, ein solches, nur scheinbare Streben, als Selbstbestimmung und Autonomie zu etikettieren.
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