Dass der Mensch ein politisches Wesen ist, wusste schon Aristoteles. Wie politisch, dürfte allerdings selbst der „Begründer der Naturwissenschaft“ nicht einmal erahnt haben – denn neuen Erkenntnissen der politischen Psychologie zufolge liegt Politik uns nicht nur in der Natur, sondern sogar in den Genen. Doch bei der Interpretation der Befunde ist Vorsicht geboten. Denn ein genetischer Einfluss, der selten rational, berechenbar und planmäßig verläuft, stellt unser Selbstverständnis von Politik als Aushängeschild menschlicher Rationalität in Frage und bedarf daher zumindest einer eingehenden Prüfung.
Persönlichkeitszüge und politische Einstellungen
Stellen wir die Zeichen also auf Anfang. Denn was sich als politische Prädisponierung des Menschen entpuppen könnte, begann im Jahre 1933 mit nichts weiter als der Idee eines Frankfurter Privatdozenten, dem von den Nationalsozialisten Mund und Lehre verboten worden waren, woraufhin dieser nach seiner Emigration in die USA an etwas zu forschen begann, was er die „Autoritäre Persönlichkeit“ nannte. Theodor Adorno war einer der ersten Forscher, der von einem Zusammenhang zwischen der politischen Einstellung und der individuellen Psychologie einer Person überzeugt war.
In seiner Konzeption steckte dabei noch ein guter Teil Sozialisation und Psychoanalyse – Adorno ging im Wesentlichen davon aus, dass Triebunterdrückung durch das Elternhaus im Kleinkindalter zur Entwicklung des autoritären Charakters führe, dessen Feindseligkeit später auf Unterlegene und Minderheiten projiziert werde. Aber auch wenn von Genen oder Biologie noch keine Rede war, hatte Adorno erstmals Persönlichkeitszüge mit politischen Einstellungen in Verbindung gebracht, und bald darauf wies er bereits Zusammenhänge der autoritären Persönlichkeit mit politischem Konservatismus und Ethnozentrismus nach. Der Stein kam ins Rollen, die Geburtsstunde der politischen Psychologie hatte geschlagen.
Ausflug in die Neuropsychologie
Nicht weniger als ein knappes Jahrhundert später befinden wir uns auf unserer Spur an einem Schauplatz, der mit Politik oder Wissenschaft gemeinhin wenig am Hut hat und dafür Größen in Film und Schauspiel hervorbringt: Hollywood. Unter den zahlreichen Stars und Sternchen ist auch der Brite Colin Firth, der für seine Darstellung Georges VI. in The King’s Speech mit einem Oscar prämiert wurde. Doch Firth ist nicht nur ein begnadeter Schauspieler, sondern auch ein Intellektueller. Und so trieb ihn zuweilen die Frage um, wie denn irgendjemand auf der Welt bloß anders denken könne als er – ein bekennender Liberaler. Firth verbrüderte sich daraufhin ausgerechnet mit der Psychologie, um herauszufinden, was mit den Konservativen dieser Welt „nicht stimme“ – mit Erfolg: Die Studie des ungewöhnlichen Teams schaffte es nicht nur auf die Titelseite des Fachmagazins „Current Biology“ sowie ins BBC-„Radio 4“, sondern wurde auf weitere Versuchspersonen ausgeweitet und mehrfach repliziert.
Der aufsehenerregende Befund der Forscher wirkt dabei zunächst eher unspektakulär. In ihrer Studie hatten sie einen Größenunterschied in zwei Arealen des Gehirns namens Amygdala und Anteriorer Cingulärer Cortex, auch „ACC“, festgestellt, der mit politischer Einstellung assoziiert war. So scheinen Liberale im Bereich des ACC über mehr Volumen zu verfügen, während bei der Amygdala die Konservativen den Spieß umdrehen und das Volumen der Liberalen übertreffen. Die Amygdala ist in unserem emotionalen System für die Verarbeitung negativer Reize verantwortlich, die Bedrohung und Gefahr signalisieren, während der ACC als Autopilot unseres Reaktionskontrollzentrums gelten kann, der überprüft, ob eine Reaktion einer Situation angemessen ist oder ein neues Verhalten initiiert werden muss. Die gefundenen Unterschiede waren so stabil, dass die Forscher nach einer Weile allein anhand der Größe der beiden Hirnareale mit einer Genauigkeit von 72 Prozent die politische Einstellung der Person vorhersagen konnten – eine weit überzufällige Trefferquote.
Forschungslawine politischer Psychologie
Die Befunde gaben selbst den Experten zunächst Rätsel auf – erst eine regelrechte Forschungslawine der politischen Psychologie konnte im weiteren Verlauf Licht ins Dunkel bringen. Denn in Einklang zu ihrer unterschiedlichen neuroanatomischen Ausstattung scheinen sich Konservative und Liberale auch unterschiedlich zu verhalten. Konservative reagieren demnach in experimentellen Aufgaben konstant schneller und intensiver auf negative Reize und bevorzugen Inhalte mit hoher kognitiver Geschlossenheit, die stabil, klar und strukturiert sind, während Liberale gegenüber negativen Reizen eher indifferent reagieren, sich mit Chaos, Ambiguität und Instabilität pudelwohl fühlen und nicht negative, sondern soziale Reize einer Situation am stärksten beachten. Was auf den ersten Blick noch nach unspektakulärem „Psychologensprech“ klingen mag, bedeutet in Conclusio nicht weniger als eine von Grund auf verschiedene Aufmerksamkeitsausrichtung von Liberalen und Konservativen, das heißt, eine verschiedene Art und Weise, den Blick durch Augenbewegungen zu steuern.
„Ich sehe was, was du nicht siehst“
Was die Ergebnisse also bedeuten, bringt das Wort „Weltanschauung“ präzise auf den Punkt: Ideologische Differenzen wären im Licht der neuen Forschungsergebnisse tatsächlich darauf zurückzuführen, dass wir je nach unserer politischen Einstellung die Welt von der Ebene einzelner Augenbewegungen bis hin zur gesamten Aufmerksamkeitsausrichtung anders „anschauen“. Diese fundamentalen Differenzen in unserem biologischen System sprechen dafür, politische Einstellung nicht mehr als Sozialisationsprodukt oder Ergebnis streng rationaler Prozesse zu betrachten, sondern als Ausdruck unserer ureigenen, genetisch beeinflussten Psychobiologie, die sich zwischen Konservativen und Liberalen unterscheidet. Im Klartext: Nicht wir selbst beeinflussen primär, welche politische Einstellung wir haben, noch tun dies unsere Eltern – unsere Gene formen unsere Wahrnehmung der Welt so, dass uns eine bestimmte politische Ideologie besonders naheliegt.
Hat uns die Neuropsychologie also wirklich ein Schnippchen geschlagen? Und sind politische Einstellungen gar prädeterminiert, sodass wir uns auch noch von unserem freien Willen in Bezug auf politische Fragen verabschieden müssen? Die wahrscheinlichste Antwort lautet: Nein, aber politische Einstellungen sind offenbar prädispositioniert. Allerdings nicht in Form eines „Politik-Gens“, sondern durch zahlreiche genetische Einflüsse, welche zusammen mit Umweltfaktoren an der Spitze einer langen und komplexen Kausalkette stehen. Innerhalb dieses Prozesses beeinflussen genetische Faktoren zunächst einmal unsere spezifische kognitive und emotionale Informationsverarbeitung, und erst im nächsten Schritt wird eine diesem kognitiven und emotionalen „Stil“ entsprechende Persönlichkeit und das individuelle Werte- und Moralsystem entwickelt, aus dem dann die individuelle politische Einstellung hervorgeht. Von einer einfachen Prädeterminierung kann also keine Rede sein.
Wie ein Fingerabdruck
Politik muss jedoch auf persönlicher Ebene neu gedacht werden – und zwar am ehesten als ein tief in der Biologie und Psychologie des Menschen verankertes Phänomen, das so individuell ist wie unser Fingerabdruck. Während die Gene der Politik also bisweilen ein Schnippchen schlagen, steht es dem Menschen frei, das Wissen darum für sich auszunutzen – und seine politische Einstellung hinsichtlich ihrer Rationalität und Wertebasis immer wieder neu und bewusst zu hinterfragen.
Konservative und Liberale unterscheiden sich nicht nur in ihren Weltanschauungen, sondern signifikant auch in ihrer Aufmerksamkeitsausrichtung und ihrer Art, die Welt zu betrachten. Auch wenn Wissenschaftler bisher kein „Politik-Gen“ gefunden haben, legen ihre Funde doch nahe, dass politische Einstellungen genetisch prädisponiert sein könnten.
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