Die Theologie relativiert ein szientistisches Weltbild, das von der Wissenschaft (insbesondere den Naturwissenschaften) Antworten auf alle – auch letzte – Fragen erwartet. Soweit die Wissenschaftskritik der Theologie. Aber ist diese – so könnte man fragen – überhaupt berechtigt, eine solche Kritik zu erheben? Ist sie auf Augenhöhe mit der kritisierten Wissenschaft als Weltanschauung? Also: Ist sie selbst eine Wissenschaft? Oder ist sie doch nur der akademische Arm einer anderen Weltanschauung? Beantwortet man diese Frage aus der Perspektive der wissenschaftlichen Weltanschauung und zieht dabei die Wissenschaftstheorie des für dieses Weltbild maßgeblichen Wiener Kreises hinzu, müssen Zweifel angemeldet werden. Zweifel, die allerdings schon auf den zweiten Blick wenig plausibel erscheinen.
Befreites Denken
Der Wiener Kreis ist vor etwa hundert Jahren als philosophische Schule entstanden, mit dem erklärten Ziel, das Denken von metaphysischen Vorstellungen zu „befreien“, um so zu einer „exakteren“ Weltanschauung zu gelangen. Die programmatische Schrift dieser Philosophenschule, der neben ihrem Gründer Moritz Schlick auch Rudolf Carnap, Otto Neurath und Kurt Gödel angehörten, trägt den Titel „Wissenschaftliche Weltauffassung“ (1929). Um zu einer solchen zu gelangen, schlug der Wiener Kreis ein methodisches Paradigma für Wissenschaft insgesamt vor, den logischen Empirismus. Kern dieser Methodik ist das empiristische Signifikanzkriterium. Es besagt: eine synthetische Aussage habe nur dann Bedeutung, wenn wir sagen können, unter welchen Bedingungen sie falsch und unter welchen sie wahr ist. Es gilt also: Die Wahrheit bzw. Falschheit von synthetischen Aussagen (also: allen Aussagen, die über rein analytische Feststellungen hinausgehen) ist nur empirisch nachweisbar. Es handelt sich hierbei also um einen methodologischen Naturalismus. Ob dieser selbsterklärend ist oder nicht vielmehr widersprüchlich, weil er etwas postuliert, das Bedingungen enthält, die das Postulat selbst nicht erfüllen kann, soll uns erst später beschäftigen. Nehmen wir zunächst den logischen Empirismus einfach einmal als gegeben an.
Empirischer Nachweis
Handelt eine Aussage von Sachverhalten, die sich nicht an der Wirklichkeit überprüfen lassen, ist die Aussage nicht bestätigungsfähig und scheidet damit aus dem Kreis der sinnvollen Sätze aus (so Rudolf Carnap). Damit ist das Urteil über wissenschaftliche Aussagen, die ja synthetisch sind, eines, das sich immer auf einen empirischen Nachweis stützen muss. Mit dem empiristischen Signifikanzkriterium liegt ein Abgrenzungskriterium gegenüber nicht-empirischer Realerkenntnis vor, oder genauer: ein Kriterium für die scharfe Trennung zwischen syntaktischer Zulässigkeit und empirischer Signifikanz. Ein Satz wie „Es gibt einen Schöpfer der Welt“ wäre demnach zwar syntaktisch zulässig, nicht aber empirisch signifikant, da er die Existenz einer übersinnlichen Entität behauptet, die mithilfe der sinnlichen Wahrnehmung nicht verifizierbar ist. Damit ist der Satz „Es gibt einen Schöpfer der Welt“ wissenschaftlich nicht relevant, zumindest nicht im herrschenden Paradigma der oben beschriebenen wissenschaftlichen Methode. Es ist leicht erkennbar, dass die Theologie, soweit sie sich auf empirisch nicht nachweisbare Entitäten bezieht, damit durch das Raster dessen fällt, was Wissenschaftlichkeit beanspruchen kann. Doch was ist von diesem Raster selbst zu halten?
Zunächst fällt auf, dass das empiristische Signifikanzkriterium so streng ist, dass nicht nur die Theologie, sondern auch andere Geisteswissenschaften (etwa die Philosophie) an ihm scheitern müssen. Das gilt selbst für die Wissenschaftstheorie als Teil der Philosophie. Denn die Aussage, relevant sei nur, was empirisch nachweisbar ist, lässt sich selbst nicht empirisch belegen. Durch das Raster fällt ferner alles, was von nicht-empirischen Annahmen abhängt, die sich als Normen, Vorstellungen oder Werturteile dem Zugriff sinnlicher Wahrnehmung prinzipiell entziehen. Dass es etwa ungerecht ist, einen Unschuldigen zu bestrafen, kann ich nicht durch Beobachtung des Vollzugs der Strafe an einem Unschuldigen erkennen, sondern nur durch die normative moraltheoretische Verbindung von Strafe und Schuld. Diese lässt sich nicht sehen, wohl aber einsehen.
Zerrbild der Theologie
Weiterhin fällt auf, dass sich die methodologische Kritik im Gefolge des Wiener Kreises auf ein Zerrbild der Theologie richtet, welches die Theologie als Lehre von Gott beschreibt und damit bei der bloßen sprachlichen Form des Wortes bleibt. Der Begriff der Theologie reicht aber weiter: Sie ist als Lehre vom Gottesverständnis des Menschen, also von der Rede über Gott und mit Gott und durch Gott, eine Wissenschaft vom Selbstverständnis der jeweiligen Religion. Und dieses Selbstverständnis lässt sich ja empirisch durchaus zeigen, anhand dessen, was Menschen aus dem Glauben heraus meinen und tun, wie sie ihn feiern und was sie schaffen, weil und soweit sie sich vom Glauben inspirieren lassen.
Spätestens seit der anthropologischen Wende ist der Einwand, die Theologie nimmt in ihrer Perspektive an der nicht-empirischen Offenbarung Gottes (oder gar an Gott selbst) Maß, kein satisfaktionsfähiger Kritikpunkt mehr, da die Theologie mit diesem Ansatz den Fokus auf anthropologische Aspekt lenkt, die ähnlich wie in anderen Fächern (Philosophie, Psychologie, Soziologie etc.) begründbare Aussagen hervorbringt, die auch ohne religiöse Vorentscheidungen diskursiv vermittelbar sind, also verstanden werden können, ohne dass für das Verständnis der Glaube an Gott die unbedingte Voraussetzung ist. Notwendig, aber auch hinreichend ist das Zugeständnis an die Perspektive des Glaubens, einen zulässigen und redlichen Blick auf den Menschen zu ermöglichen.
Anthropologie der Neurowissenschaften
Weil, wie wir bereits sahen, auch die anderen anthropologischen Fächer aus dem Kanon der (universitären) Wissenschaften gestrichen werden müssten, jedenfalls, soweit sie nicht nur naturwissenschaftlich forschen, also in ihrer Methodik von einer Engführung im Paradigma des logischen Empirismus‘ absehen, bliebe am Schluss nur noch eine Anthropologie der Neurowissenschaften mit einem reduktionistischen Menschenbild übrig, das den Menschen rein naturalistisch zeichnet. Wer also gegen die Theologie an der Universität wettert, muss sich der Folgelast seiner Kritik bewusst sein: Der Mensch sinkt dann als „Forschungsgegenstand“ auf das Niveau einer isoliert beschreibbaren empirischen Entität herab, was schon deswegen unstimmig ist, weil es immer Menschen sind, die Aussagen über den Menschen machen – seien diese Aussagen nun alltäglich oder wissenschaftlich, von Gefühlen geleitet oder von Forschungsergebnissen grundiert.
Axiome und Prämissen
Umso mehr bedarf es der Klärung der Axiome und Prämissen, unter denen Anthropologie betrieben wird. Hier ist die Theologie geradezu vorbildlich, weil sie nicht verschweigt, was ihr Ausgangspunkt ist: Gott (im Verhältnis zum Menschen) und der Mensch (im Verhältnis zu Gott). Sie wäre insoweit geradewegs ein Leitbild an selbstaufgeklärter Wissenschaftlichkeit. Und insoweit zuvörderst berechtigt, kritisch auf die Mängel anderer Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften – gerade derer vom Menschen (Biologie, Medizin, Neurowissenschaften) – hinzuweisen. Also: Ja, die Theologie ist eine Wissenschaft.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.