In hohem Alter hat sich Jürgen Habermas noch einmal zu Wort gemeldet und über die Religion gesprochen. Was er sagt, lässt aufhorchen. Es ist eine erstaunliche Äußerung für einen Mann, der sich selbst für unmusikalisch hält in Sachen der Religion! Oder der als junger, linker Denker die Religion für ein Hindernis des Fortschritts ansehen musste. Die Formel, religiös unmusikalisch zu sein, hat er zwar von Max Weber entlehnt, er hält sie aber seit Jahren für sich in Gebrauch. Er gibt diesem Wort in dem großen Werk ‚Auch eine Geschichte der Philosophie‘ aus dem Jahr 2019 eine neue Bedeutung und einen neuen Klang. Habermas dringt jetzt in die Gestalt der Religion selbst ein.
Die verkümmernde Vernunft
In seinem Werk heißt es auf der letzten Seite des zweiten Halbbandes: „Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein, solange sich dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert und damit als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes behauptet. Der Ritus beansprucht, die Verbindung mit einer aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen. Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt – und so lange hält sie auch für die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung ‚ins Profane‘ harren.“
Nicht auf den Himmel warten
Ein allgemeines Lob auf die Religion ist von Jürgen Habermas schon öfter zu hören gewesen, seit er in den 70er Jahren in Starnberg mit Carl Friedrich von Weizsäcker ein Institut zur Erforschung der Moderne geleitet hat. Aber er vergisst nicht seine Herkunft: „Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet.“ Mit der Kritik der Religion hatte die säkulare Moderne ihren Weg begonnen, denn sie wollte die Erde gestalten und nicht auf den Himmel warten. Ludwig Feuerbach hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts verkündet, er wolle die „Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits“ erziehen. Karl Marx hat diese Kritik der Religion sofort übernommen, indem er seine Sozialphilosophie zunächst durch den Feuer-Bach schickte.
Das Programm ist auch von der Theologie nicht zu verwerfen. Wenn es nur erfolgreicher wäre! Die bisherigen Versuche der Moderne sind zwar einerseits sehr vielversprechend gewesen, dennoch reichen alle Siege nicht aus zur Erfüllung der Verheißungen. Sie waren erfolgreich in hohem Maße, was die guten Gründe anzeigt, von denen Habermas spricht. Das Problem aber ist nicht der große Erfolg, sondern der immer noch nicht endgültige Erfolg. Eigentlich hatten die Propheten der Moderne das Paradies auf Erden versprochen, und nicht eines, das die Welt im 21. Jahrhundert in Umweltpanik versetzt. Etwa um 1840 hatte Heinrich Heine ausgerufen: „Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, ... / Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.“ Heine schlägt die gleichen Töne an wie Feuerbach. Was die Kirche als himmlisches Paradies versprochen hat, ist wunderbar, aber wir wollen das Paradies hier und jetzt! Wir bauen es selbst!
Theorie und Praxis
Es gibt ein altes Sprichwort zur Geschichte der Klöster, das die Erfahrung von fast zwei Jahrtausenden bündelt: „Zucht bringt Reichtum, und Reichtum zerstört Zucht.“ Heute müsste das Wort lauten: „Fortschritt bringt Konsum, und Konsum zerstört Fortschritt.“ Die Erde ist nicht so ganz in der Lage, das Brot und die Zuckererbsen hervorzubringen. Ist Habermas auf diese Dialektik, auf diesen Widerspruch der Moderne aufmerksam geworden? Auf jeden Fall ist die säkulare Vernunft nach ihm in Gefahr, wenn sie das Band zur Transzendenz gänzlich kappen will.
Jetzt kommt die Überraschung: Die Bewältigung dieses Mangels sucht Habermas im Ritus und in der Liturgie. Das sagt ein Intellektueller, dem jeder Ritus wie eine Demütigung erscheinen muss! Kann die Liturgie ein Programm zur Bewältigung der Klimakrise sein? So hat es Habermas wohl nicht gemeint, oder höchstens ganz von ferne.
Nein, die Praxis bewältigt Habermas wie eh und je durch die Theorie. Den dunklen Fleck im Programm der Moderne sieht er mit scharfem Blick. Die Moderne wollte alles selber machen, von einer „in die Welt einbrechenden Macht“ wollte sie nichts wissen. Die Welt oder die Natur oder die Gesellschaft ist diejenige Wirklichkeit, die ich bearbeiten kann. Aber ist das schon alle Wirklichkeit? Die Praxis des Paradiesbaues und die Theorie der Quantenphysik haben dem Programm der Moderne eine strenge Grenze gezogen. Eben diese doppelte Grenze ist dem Philosophen wohl in Starnberg bewusst geworden.
Säkularisation kennt keine natürlichen Schranken
Wie verhält sich die Moderne an der Grenze? Zunächst einmal gar nicht, denn eine Grenze war nicht vorgesehen. Das Programm der Säkularisation kennt keine natürlichen Schranken. Das ging so von Descartes bis Nietzsche, der eine wollte den Menschen zum „Herrn und Meister“ über die Natur einsetzen, der andere wollte als der neue Kolumbus das unendliche Meer befahren. Noch aus dem 20. Jahrhundert lassen sich Geschichten erzählen, in denen Physiker in Wut geraten, weil Edwin Hubble 1929 den Kosmos als begrenzt in Raum und Zeit erwiesen hat. Das ist Verrat an der Wissenschaft, rief ein Physiker lauthals, als er vom Anfang der Welt hörte, und Einstein fühlte sich vom nicht-würfelnden Gott verraten, weil Gott seinem strengen Verbot entgegen dennoch würfelt. Das soll heißen, weil der Zufall in der Natur echt ist. Der Zufall ist die Grenze der Vernunft und schränkt den Überblick ein. Damit ist das Paradies auf Erden auch theoretisch vorbei.
Nach Habermas würde die Vernunft verkümmern, wenn jeder Gedanke, der „das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert“, verschwindet. Ist das die Andeutung einer Grenze? Zum einen lebte die Moderne von der Transzendenz, indem sie deren Erbschaft antreten wollte, etwa bei Heine und Feuerbach. Das meint Habermas wohl auch so, wenn er die Vernunft in Beziehung zur Transzendenz sieht, eben in Form des Erbes, und wenn er zum anderen diese Beziehung sogar wünscht und bejaht, da die Vernunft sonst zu verkümmern droht. Das kann man wiederum doppelt verstehen. Wenn sie die Verbindung zur Transzendenz kappt, könnten ihr die Inhalte ausgehen, die sie beerben möchte. Oder er könnte die Verbindung zur Transzendenz deshalb wünschen, weil es dem endlichen Sein gar nicht gegeben ist, bis zum unendlichen Sein zu wachsen. Dann würde Habermas den Titanismus der Neuzeit von Descartes und Nietzsche verwerfen, aber ein legitimes Wachstum aus eigenen Kräften bejahen. Deshalb die guten Gründe für die säkulare Moderne!
Hier hilft der Doppelbegriff von Ergreifen und Ergriffenwerden. Die immanente Natur wäre die Wirklichkeit, die der Mensch ergreifen kann, Gott wäre die Transzendenz, die den Menschen ergreift, etwa in Geburt und Tod, und viele Male dazwischen. Merkwürdigerweise ist die Grenze zwischen den beiden Bereichen beweglich, weil der Mensch sein Leben und die Natur in die Hand nehmen kann. Nur eben nicht ganz, deshalb ist er noch sterblich und bleibt sterblich.
Atheist Nietzsche
Wer das Programm der Moderne am besten verstanden hat, ist Friedrich Nietzsche. Er verdient den Ehrentitel eines Atheisten. Man kann nur Atheist sein, wenn man sich selbst geboren hat. Im Zarathustra lässt er daher seinen Propheten verkünden: „Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft.“ Das ist exakt gedacht. Wenn ich nicht alles ergreife, dazu gehört auch meine Geburt, stoße ich an eine Grenze und werde ergriffen. Solange ich mein Sterben nicht abgeschafft habe, glaube ich an Gott. Es ist allerdings nur ein Ehrentitel, denn geschafft hat auch Nietzsche es nicht. In Turin 1889 hat ihn der Tod angefallen, und im Jahr 1900 hat er ihn weggerafft.
Ritus und Liturgie
Was macht Habermas in dieser Situation? Auf sehr zurückhaltende Weise spricht er sich für Ritus und Liturgie aus. Diese Form der Religion scheint ihm überzeugend zu sein. Und da er das Wörtchen „noch“ hinzufügt, kann niemand sagen, er empfehle der Moderne die Religion für einen Zweck. Was ja auch ein falscher Gebrauch wäre! Man kann nicht das Nachtgebet sprechen, nur weil man dann besser schlafen kann.
Aber Habermas hat die richtige Ahnung von der Moderne, die ja ansonsten von ihm empfohlen ist. Er hat die Ahnung der Grenze, die in die Immanenz als Macht der Transzendenz einbricht. Die Religion des Wortes scheint ihm da weniger versprechend zu sein, weil er wohl meint, im Wort sei der Mensch selbstmächtig, und nur in Ritus und Liturgie erkenne er die Macht an, die über seine irdischen Pläne hinaus geht.
Das ist amüsant zu lesen. Denn die Reformation ist durch die genau umgekehrte Wertung zustande gekommen. Die Reformatoren hielten den Ritus für eigenmächtig, sie warfen ihm Werkgerechtigkeit vor: Der Mensch wolle sich durch Messe, Weihrauch und Rosenkranz den Himmel verdienen. Und nur im Wort der hl. Schrift fanden sie die Gerechtigkeit aus dem Glauben, wo der Mensch sich ganz an das Tun Gottes hält.
Starke religiöse Ader
Aber Habermas ist kein Theologe, für ihn sind Gerechtigkeit aus dem Glauben oder aus dem Werk kein Erlebnis. Trotzdem zeigt Habermas hier ein ziemliches Feingefühl, eine starke religiöse Ader, weil die Kirche in ihrem Ritus zwar ein Handeln des Menschen sieht, aber noch mehr ein Handeln Gottes. Habermas ist doch musikalisch! Wenn immer einer tauft, so tauft Christus selber, sagt das Vaticanum II. Wenn also Habermas den Vorteil beim Ritus sieht, drückt er seine Sichtweise auf die Wirklichkeit aus, in der er etwas als wirksam erkennt, was nicht dem Tun des Menschen entspringt. Das ist seine Anerkennung Gottes.
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