Kann man heute noch an Gott glauben? Die Frage stellt sich vielen Menschen vor dem Hintergrund einer sich zur Weltdeuterin, Sinnstifterin und Hoffnungsträgerin aufspreizenden Wissenschaft. Glauben wir also besser an die Wissenschaft und sind damit auf der sicheren Seite? Um entscheiden zu können, ob wir hinsichtlich der zentralen Fragen des Lebens nach Sinn und Hoffnung bei der Wissenschaft wirklich richtig liegen, oder ob Gott Verheißungen für uns bereithält, die kein menschliches Genie erfüllen kann, müssen wir uns mit dem Verhältnis von religiösem Glauben und wissenschaftlicher Forschung auseinandersetzen. Mit Fragestellungen – und deren Reichweite. Mit Methoden – und deren Grenzen. Mit Argumentationen – und deren innerer Struktur. Das ist schwierig. Einfacher – und dennoch nicht banal – orientiert uns eine Metafrage: Wie sehen eigentlich Wissenschaftler die Kontroverse? Wenn „man“ als Nicht-Wissenschaftler meint, aus wissenschaftlichen Motiven nicht mehr zu glauben können, dann wäre ja ein Wissenschaftler, der glaubt, ein guter Grund zum Nachdenken über diese Meinung. Oder?
Wissenschaft trifft Glauben
In den Sozialen Medien ist die Debatte ein Dauerbrenner, mit Übergriffigkeiten in die eine und die andere Richtung: Religiöse Gruppen, die meinen, man könne die Genesis als Laborbericht lesen, sind nur einen Klick weit entfernt von Szientisten, die jede nicht-empirische Erfahrung als krankhaften Wahn sanktioniert wissen wollen. Wer hier wirklich weiterkommen will, braucht einen langen Atem.
Im Facebook gibt es die Seite „Science meets Faith“ (knapp 10 000 „Likes“), die seriöse Beiträge teilt. Mal ein Zitat oder auch die Vorstellung eines religiösen Wissenschaftlers, mal eine inhaltliche Widerlegung anti-religiöser Mythen, mal ein theologischer Gedanke, der aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet wird. Immer unterhaltsam und lehrreich, allerdings auf Englisch. Ebenso der Blog, der dazugehört, dessen Motto lautet: „Can you be both, Scientist and Christian at the same time? Yes, you can – yes, we can!“ Eine wahre Quelle der Inspiration, die ohne Polemik auskommt.
Natürlich gibt es auch auf YouTube zahlreiche Videos, die in eine oder die andere Richtung gehen, oft auch zu weit, weil die unsachgemäß zuspitzen und die Bedeutung von Kontexten verkennen. Aber auch hier gibt es sehenswerte Angebote. Ein besonders empfehlenswertes Programm sind dabei immer wieder die Beiträge des Physikers und bekennenden Protestanten Harald Lesch, der 2010 auf dem Ökumenischen Kirchentag in München gefragt wurde, warum er als Wissenschaftler an Gott glaube und so kurz wie trocken antwortete: „Was soll ich denn sonst machen?!“
Lesch: „Gott kann man nicht messen“
Leschs YouTube-Video „Gibt es einen Gott?“ aus der „Terra X Lesch & Co.“-Reihe dauert nur acht Minuten und passt sich damit trotz der komplexen Thematik der Aufmerksamkeitsspanne des durchschnittlichen Nutzers an. Mit Erfolg: Es wurde rund 1,2 Millionen mal aufgerufen – eine ganze Menge für einen Beitrag ohne Schminktipps. Eingeführt wird es mit dem Appetitmacher, der Titel formuliere „die Frage aller Fragen“, die da lautet: „Gibt es ein höheres Wesen, das alles erschaffen hat und das steuert, was auf der Welt passiert?“ Harald Lesch gebe dazu eine „Antwort aus wissenschaftlicher Sicht“.
Nicht ganz. Gleich zu Beginn des Videos wird die Frage umformuliert: „Kann es Gott aus wissenschaftlicher Sicht geben?“ Diese ist freilich anders gelagert: Potenzialität (etwas ist möglich) ist weit schwächer als Faktizität (etwas ist der Fall). Aber es bleibt beim Thema: Glauben und Wissen, Glauben durch Wissen, Glauben trotz Wissen.
Lesch beginnt mit der anthropomorphen Götterwelt des Polytheismus und dem Anliegen der Religion, die Natur zu erklären, um daraus die Differenz von Glaube und Naturwissenschaft zu entwickeln. Naturwissenschaft spiele sich, so Lesch, ohne Gott ab, ohne, dass es in Formeln, Modellen oder Theorien ein göttliches Element gäbe. Zugleich führt Lesch die Theologie als Wissenschaft ein: als „Wissenschaft von den religiösen Erfahrungen“, die Gott erweisen kann. Dagegen könne die Naturwissenschaft Gott nicht beweisen. Gott sei schlicht und ergreifend kein Gegenstand der empirischen Forschung: „Gott kann man nicht messen“.
Unterkomplexe Übergriffe
Die Unermesslichkeit Gottes hat aber nicht verhindert, dass man über lange Zeit unerklärliche Naturphänomene Gott zuschrieb und daher hoffen konnte, in der systematischen Betrachtung der Natur (also: durch Naturwissenschaft) auch „Spuren Gottes“ in der Natur zu finden, die als Gottesbeweis taugen. Im Zuge der physikotheologischen Annahme, ein solcher Beweis sei möglich und nötig, sei, so Lesch, mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert ein Problem entstanden, weil sich zeigte, dass physikalische Gesetze, chemische Formeln und biologische Theorien, in denen man eigentlich „Spuren Gottes“ finden wollte, für sich genommen auch ohne Gott beziehungsweise ohne Glauben an Gott funktionieren.
Wenn man nun aber kontrafaktisch an einer konkreten Verbindung von Gott und Natur festhält und daran, dass der religiöse Glaube beides zu durchdringen anstreben soll (und damit meint, dass die Kirche auf beiden Feldern – bei der Vorstellung Gottes und bei der Interpretation der Natur – das letzte Wort haben sollte), dann werde Gott zum „Lückenbüßergott“: Gott werde der Raum zugewiesen, der (noch) nicht ohne Gott erklärt werden kann. Da diese Erklärungslücke durch den wissenschaftlichen Fortschritt immer kleiner werde, werde auch das Gottesbild immer geringer. Gott werde immer mehr zurückgedrängt, bis er keine Rolle mehr spiele. Wichtiger Hinweis!
Der Protestant als Papstverehrer
Dann geht Lesch auf Gottesbeweise ein, die Gott als Erstursache des Seienden betrachten, als den „unbewegten Beweger“ (Aristoteles), der unserer Natur, wie wir sie heute beobachten können, einst den Anstoß zur Entwicklung gab, oder mit Anselm von Canterbury aus der Logik begründen. Damit verlässt er den Rahmen der Fragestellung, bei der es ja um die Möglichkeit eines „wissenschaftlichen“ Beweises ging, nicht um philosophische Denkmöglichkeiten.
Das Erstaunliche ist nicht, dass auch Lesch schlussendlich die Frage nicht beantworten kann (Tipp: Sie ist vom Menschen nicht zu beantworten.), das Erstaunliche ist, dass der Protestant Lesch ausgerechnet in Papst Franziskus einen glaubwürdigen Vertreter der bejahenden Antwort auf die Gottesexistenzfrage sieht. Fast anderthalb Minuten des Videos nutzt Lesch für eine Lobeshymne auf den Heiligen Vater, die selten zuvor so klar und überzeugt vorgetragen zu hören war. „Wenn es Gott nicht gibt, dann sollte man ihn erfinden“, ist die Schlussfolgerung Leschs aus der Liebesethik des Christentums, die gerade Papst Franziskus mit dem Jahr der Barmherzigkeit so deutlich vertreten habe.
Ewige Debatte
Erstaunlich ist auch, dass die Gottesfrage immer noch so viele Menschen interessiert. Unter dem Video sammeln sich die über 15 000 Kommentare zu einer ebenso disparaten wie kontroversen Debatte, deren Niveau von Beitrag zu Beitrag erheblich schwankt. Es zeigt sich aber, wie eine tendenziell gottlose Gesellschaft schwer mit sich ringt. Man hätte schon gerne, der Eindruck entsteht, einen wissenschaftlichen Beweis für die Existenz oder Nichtexistenz Gottes. Das gilt für beide Seiten. Der Glaube an die Aussagekraft eines solchen Beweises eint also die Parteien, d.h.: auf die Wissenschaft als Entscheidungsinstanz kann man sich einigen. Die Tatsache, dass Gott völlig herausfällt aus wissenschaftlichen Überlegungen, darauf weist auch Lesch hin, wird gerne übersehen.
Den Christen mag man erinnern, dass Glaube Vertrauen heißt und dass der christliche Glaube darauf angewiesen ist, bezeugt zu werden, nicht bewiesen. Insoweit steht am Ende eine Art friedliche Koexistenz. Die Frage nach Gott (Religion) und die Frage nach der Natur (Wissenschaft) sind methodologisch „nonoverlapping magisteria“ (Stephen Jay Gould). Dabei sollte es bleiben.
Die Frage, wie sich der christliche Glaube zur Wissenschaft verhält, wird auch in den Sozialen Medien intensiv debattiert. Die Angebote haben schwankende Qualität. Empfehlenswerte Beiträge liefert die Seite „Science meets Faith“ – allerdings nur auf Englisch. Deutsch (und Tacheles) spricht der Physiker und Protestant Harald Lesch. In dem Video „Gibt es einen Gott?“ plädiert er für die Vereinbarkeit von Glaube und Wissenschaft. Er lobt in diesem Zusammenhang Papst Franziskus.
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