Weltall

Gott und Kosmos

Wen faszinieren nicht die Bilder des James-Webb-Teleskops, die derzeit in den Medien veröffentlicht werden? Wir beginnen zu ahnen, dass hinter dieser sichtbaren ungeheuren Komplexität nicht einfach Nichts stehen kann.
Webb-Teleskop bietet einen unbeschreiblichen Einblick in den Kosmos
Foto: Space Telescope Science Institut (STScI) | Das Webb-Teleskop bietet einen unbeschreiblichen Einblick in den Kosmos.

Blicke in den Kosmos, wie sie moderne Teleskope ermöglichen, sind nicht nur Blicke in unvorstellbar weite Räume, sondern auch immer Blicke in eine tiefe Vergangenheit, weil das Licht mehrere hundertausend Jahre oder noch viel länger unterwegs war, bevor es die Erde erreicht. Wir blicken teilweise sogar zurück in den frühen Kosmos, kurz nach seiner Entstehung im Urknall. Dem sind jedoch Schranken gesetzt, denn die heutige Physik lehrt uns, dass es Grenzen der Teilbarkeit von Masse, Energie, Strahlungen usw. gibt, und erstaunlicherweise gilt das auch für die Zeit.

Die Planck‘sche Zeit ist das kleinstmögliche denkbare Zeitintervall, 10-43 sec, also 0,000…1 Sekunden, vor der Eins stehen 42 Nullen. Weiter zurück können wir nicht blicken. Zur Planck‘schen Zeit hatte das Universum nur eine Ausdehnung von 10-30 Zentimetern, und in diesem winzigen Raum herrschten unvorstellbare Hitze und Dichte, bevor die Ausdehnung des Kosmos begann. Aber woher kam diese kolossale Energiemenge am Ursprung? Was war vor dem Urknall? Die Frage macht so keinen Sinn, weil nach den Theorien der modernen Physik mit dem Urknall Raum und Zeit erst entstanden sind. Schon Augustinus war der Auffassung, dass der Kosmos nicht in der Zeit geschaffen wurde, sondern mit ihr. Präziser müssten wir also fragen: Was ist die Ursache für den Urknall?

Der Ursprung des Universums

Der französische Philosoph und Theologe Jean Guitton, der erste Laie, der jemals auf einem Konzil sprechen durfte und Zeit seines Lebens dem Papsttum sehr verbunden, führte über Fragen nach dem Ursprung des Universums ein Gespräch mit den Brüdern Grichka und Igor Bogdanov, theoretischen Physikern aus Frankreich. Die Diskussion wurde in dem Buch „Gott und die Wissenschaft“ 1993 veröffentlicht. Wie die Zeitung Le Parisien Anfang dieses Jahres nach dem Tod der Brüder in Folge einer Corona-Infektion berichtete, arbeiteten sie an einem neuen Buch „Gott und die Wissenschaft 2“ — Interviewpartner sollte diesmal Papst Franziskus sein.

Raum-Zeit und Materie sind Manifestationen einer tieferen Wirklichkeit

Nach Auffassungen der aktuellen Quantenfeldtheorie besteht das Universum, das wir beobachten, lediglich aus Schwankungen auf einem ungeheuren Energiemeer. Die Raum-Zeit und die Materie haben hier ihren Ursprung und sind lediglich Manifestationen einer tieferen Wirklichkeit. Für den Physiker David Bohm beruht der Urknall auf einer rätselhaften Aktivität dieses Untergrunds, der wiederum einer ewig schöpferischen Quelle jenseits von Raum und Zeit entspringt.

Die größte Erkenntnis der theoretischen Physik der letzten dreißig Jahre ist die Tatsache, dass sie eine Vollkommenheit am Ursprung des Universums aufzuspüren vermochte, ein Meer unendlicher Energie. Dieser Auffassung sind nicht nur die Brüder Bogdanov, sondern beispielsweise auch Trinh Xuan Thuan (ein vietnamesisch-amerikanischer Astrophysiker), Bernard d’Espagnat (ein theoretischer Physiker aus Frankreich) oder der soeben erwähnte David Bohm. Der Zustand der vollkommenen Ordnung und Symmetrie wird nach den Physikern Kubo, Martin und Schwinger als KMS-Zustand bezeichnet. In einem Quantensystem im KMS-Zustand ist die Zeit mathematisch gesehen komplex, d.h. sie besitzt einen imaginären und einen reellen Anteil, plastisch gesprochen: sie verformt sich, wird elastisch, kann langsamer werden, sich heftig beschleunigen oder springen.

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Die unerschöpfliche Zeit

Jean Guitton spricht von einer unerschöpflichen Zeit, die noch nicht „geöffnet“ wurde, nicht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geteilt ist. Diese absolute Zeit, die nicht vergeht, könnte gemeint sein, wenn von der göttlichen Ewigkeit die Rede ist. Was die Physiker vollkommene Harmonie nennen, das Meer unbegrenzter Energie, ist für Jean Guitton rätselhaft, unendlich geheimnisvoll, allmächtig, ursprünglich, schöpferisch und vollkommen: der Schöpfergott.

Eine weitere Konsequenz der Quantenfeldtheorie besteht darin, dass ein Elementarteilchen nicht durch sich selbst existiert, sondern durch die Wirkungen, die es hervorbringt; dieses Ensemble der Wirkungen nennt man sein „Feld“. Der Grund der Materie ist letztlich unauffindbar, die Physik beschreibt nur ihre Wechselwirkungen. Die zugrundeliegende „Substanz“ der Materie besteht lediglich aus diesen Feldern.

Elementarteilchen haben keine Existenz im strengen Sinne, sondern die Felder sind die letzte Realität. Auch Raum und Zeit sind Projektionen, die keine unabhängige Existenz haben. Guitton spricht angesichts der Felder von einem Schleier, hinter dem eine seltsame tiefe Realität existiere, eine Realität, die nicht aus Materie bestünde, sondern aus Geist. Die Felder bilden den Träger für den Geist der Realität. Als etwas Immaterielles stellen sie reine Information dar.

Am Anfang steht ein immaterielles geistiges Urfeld

Das Urfeld vor dem Urknall war durch eine absolute Symmetrie, einen Zustand der vollkommenen Ordnung gekennzeichnet. Die heutige Realität ist das Ergebnis dieser transzendenten Ordnung, die ihrer Entstehung und auch ihrer Entwicklung zugrunde liegt. Aus der Information der imaginären Zeit wurde die Energie der reellen Zeit, der Zeit des heutigen Universums, angefüllt mit Energie und daher auch Materie. Information ist quasi imaginäre Energie. Der Physiker Rowan Hamilton schrieb: „Die Materie ist vielleicht das Resultat einer Reihe von Wechselwirkungen zwischen Informationsfeldern.“ Wie von David Bohm beschrieben, existiert in den Tiefen des Raumes eine implizite Ordnung.

Das Universum ist mit Intelligenz und Intention gleichsam angefüllt; angefangen von den Elementarteilchen bis zu den Galaxien. Der Geist ist nicht irgendwann im Verlaufe der Evolution entstanden, sondern war von Anfang an im Universum; er stammt aus dem ursprünglichen Informationsfeld. Geist und Materie bilden letztlich eine gemeinsame Realität, aber der Geist ist nicht, wie im Panpsychismus, in kleinen Quanten in der Materie verteilt, die sich kombinieren, sondern der Geist aus dem Urfeld ist — in den Worten David Bohms — überall in die Materie „eingefaltet“. In der Genesis lesen wir: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn“ (Gen 1,27). Angesichts des gerade Gesagten können wir formulieren: Wir sind selbst das Bild Gottes, des Ursprungs. Wir sind nicht nur Sternenstaub, wie wir es im Schlager hören, sondern wir tragen die kosmische Totalität in uns.

Messbare Spuren des Urfelds

Die Spuren des Urfelds sind heute noch messbar und durchziehen das gesamte Universum. Nach der Theorie der Bogdanov-Brüder könnten sie der Grund für die dunkle Energie sein, die für die beobachtete beschleunigte Expansion des Universums verantwortlich ist. Man könnte sagen, der Geist entdeckt bei seinen Versuchen, die umgebende Realität zu verstehen, dass sie etwas mit ihm selbst zu tun hat. Die moderne Quantenfeldtheorie entzieht einer Unterscheidung zwischen Materie, Geist und Bewusstsein jeglichen Boden.

Diese Erkenntnis bildet die Grundlage des „Metarealismus“, den Jean Guitton mit folgenden drei Prinzipien umreißt: (I) Geist und Materie bilden ein und dieselbe Realität. (II) Der Schöpfer dieses Universums aus Materie und Geist ist transzendent. (III) Die Realität „an sich“ dieses Universums ist nicht erkennbar. Wie bei Thomas von Aquin gilt es, den Akt des Glaubens mit dem Akt des Wissens zu vereinbaren, oder einfacher formuliert: Gott und die Wissenschaft zu vereinbaren — daher rührt auch der Titel des Interviewbandes von Guitton und den Bogdanov-Brüdern. Jean Guitton gilt als Vertreter par excellence des Neu-Thomismus.

Kann der Physiker Gott beweisen?

„Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ oder „Welchen Sinn macht überhaupt das Ganze?“ Solche Fragen sind rein naturwissenschaftlich nicht zu beantworten, an der Naturwissenschaft vorbei aber auch nicht. Wie sich solche Sinnfragen zu den Ergebnissen der Naturwissenschaft verhalten, ist allerdings strittig. Der Philosoph und Theologe Hans-Dieter Mutschler steht Überlegungen wie denen von Jean Guitton kritisch gegenüber. In einem Aufsatz mit dem Titel „Kann der Physiker Gott beweisen?“ schreibt er, wer teleologisch denke, der werde immer Neigung haben, sich eine Hierarchie von Werten vorzustellen, die in einem summum bonum gipfelt, das wir dann mit Gott identifizieren. Mutschler lehnt das „anthropische Prinzip“ ab, das besagt, der Kosmos sei auf die Schaffung des Menschen hin angelegt, und meint, die Menschheit habe vielleicht nur sechs Richtige in einer kosmischen Lotterie gezogen. Aber er gibt auch zu: Wenn Gott die Welt erschaffen hat und wenn Gott Geist ist, muss es zumindest Spuren von Geist in ihr geben. Doch von der Physik führt nach Mutschler kein direkter Weg zur Theologie. Aber darum geht es auch gar nicht.

Gott und Naturwissenschaft sind vereinbar

Die Existenz Gottes soll nicht zwangsläufig aus physikalischen Tatsachen gefolgert werden. Und natürlich ist es schwer, wenn nicht unmöglich, mit einem Begriff wie „unbegrenztes Energiemeer“ unsere Vorstellungen von einem unendlich gütigen und liebenden Gott zu verbinden. Aber es scheint mir wichtig festzuhalten, dass der Glaube an Gott mit den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften vereinbar ist, ja nicht nur das, sondern dass Plausibilität für die Existenz eines lenkenden planenden Geistes überall im Kosmos zu finden ist. Mit Pierre Teilhard de Chardin könnte man auch sagen, Gott sei überall in der Natur, in Physik und Biologie, sichtbar; Teilhard nennt das die Diaphanie Gottes in der Materie. Kein Beweis, aber überwältigende Plausibilität!

Henri Bergson schrieb: „Alle […] dargelegten Erwägungen lassen die Realität des Geistes mit Händen greifen, so hoffe ich. Aus alledem wird natürlich die ldee eines schöpferischen Gottes und freien Erzeugers sowohl der Materie wie des Lebens erkennbar.“

Prof. Dr. Heribert Vollmer leitet das Institut für Theoretische Informatik der Leibniz Universität Hannover.

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