Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland über 10.000 Menschen das Leben – Dunkelziffer unbekannt. Mit den angestrebten gesetzlichen Regelungen zu einem „assistierten Suizid“ dürften es deutlich mehr werden. Der Entschluss, mit einer Selbsttötung – nichts anderes besagt der dem Lateinischen entlehnte Begriff „Suizid“ – zu liebäugeln oder vielleicht mehr oder weniger spontan darauf zuzugehen, hängt in der Regel auch mit weltanschaulichen oder religiösen Grundperspektiven des oder der Betreffenden zusammen. Was nämlich erwartet dieser frustrierte, erschöpfte oder verzweifelte Mensch persönlich und mit Blick auf sein soziales oder religiöses Umfeld hinsichtlich der Frage, ob und wie es nach dem Tod weitergeht? Selbst ein Atheist, Materialist oder Nihilist kann sich nicht wirklich sicher sein, dass mit dem Tod wirklich alles aus sein und er nicht eventuell doch irgendwie zur Rechenschaft gefordert oder zumindest in einer postmortalen Verwirrung oder Qual enden wird.
Insofern reicht es im Grunde keineswegs aus, sich bei Selbsttötungsabsicht um ein möglichst friedliches, geordnetes Sterben zu bemühen, wie es ein „assistierter Suizid“ vielleicht am ehesten garantieren mag – als hinge nicht sehr viel, womöglich unendlich viel davon ab, was nach dem Sterben folgen könnte! Daher interessieren sich Betroffene nicht selten für sogenannte Nahtod-Erfahrungen: Was sagen die eigentlich über das Erleben auf der Schwelle zum Tod und über spirituelle Perspektiven von dort aus? Weiß die internationale Nahtodforschung Näheres über das Ergehen von Suizid-Tätern im Übergang und später, falls es ein „Später“ und vielleicht sogar ein „Zu spät“ gibt? Nicht zuletzt Angehörige und Freunde zeigen sich nach einem Selbstmord hochinteressiert an Auskünften über authentische Eindrücke an der allerletzten Grenze und ihrer Bewertung.
Keine letzten Garantien
Wenn thanatologische Forschung auch keine letzten „Garantien“ vermitteln kann, so eröffnen sich mit ihr doch manch erstaunliche Indizienfunde und beeindruckende Anschaulichkeiten. Der US-amerikanische Psychiater und langjährige Nahtodforscher Professor Bruce Greyson zieht am Ende seines Buches „Nahtod“ (2021) das Resümee, es könnten ja vielleicht jene besonderen Grenz-Erfahrungen eines Tages naturwissenschaftlich irgendwie erklärbar werden, aber bis auf Weiteres sei tatsächlich „eine Form des nach dem Tod weiterbestehenden Bewusstseins das plausibelste Arbeitsmodell.“ Wie also stellt sich die Frage nach den persönlichen Folgen eines Suizids aus Sicht derer dar, die aus der „Todeszone“ mit ihren bereits aufweichenden Grenzen von Raum und Zeit zurückgekehrt sind?
Schon den Orphikern zufolge, die Anhänger eines sektenartigen Mysterienkults im alten Griechenland waren, wird Selbstmord im Jenseits bestraft. Auch der römische Geschichtsschreiber Flavius Josephus wusste vor ungünstigen Folgen eines Suizids im nachtodlichen Erleben zu warnen. In der Nahtodforschung des 20. Jahrhunderts schien sich dieser Eindruck zunächst zu bestätigen: Fast durchgehend zeigte sich in der einschlägigen Quellen- und Fachliteratur, dass Reanimierte nach versuchter Selbsttötung im Unterschied zu den sonst oft als mystisch-schön geschilderten Erfahrungen auf der Todesschwelle von sehr unangenehmen, teils „höllenartigen“ Widerfahrnissen und Visionen berichtet haben. So erklärte in den 70er Jahren der international wohl bekannteste Nahtodforscher, der Arzt und Philosoph Raymond Moody, den Aussagen in seiner Materialsammlung zufolge seien Mord und Selbstmord aus jenseitiger Sicht streng verboten, ja überhaupt das Schlimmste, was man tun könne. Zudem löse ein Suizid die jeweiligen Probleme weder im Diesseits noch im Jenseits. Ein „Zurückgekehrter“ habe erklärt: „Wenn ich Selbstmord begehe, dann wäre das so, als ob ich Gott ein Geschenk ins Gesicht schmeißen würde.“ Keiner von ihnen habe je wieder an Suizid gedacht.
Nicht jede Selbsttötung geschieht ja aus akuter Verzweiflung
Auch viele andere Nahtodforscher und -forscherinnen sind zu recht zu ähnlichen Resultaten gelangt. Daraus scheint sich der klare Appell zu ergeben, von einer Selbsttötung doch besser die Finger zu lassen. Und das entspricht ganz den traditionellen Weisungen der theistischen Religionen. Dabei wäre allerdings die Frage zu stellen, ob aus der Perspektive der Nahtodforschung nicht doch auch anderslautende Auskünfte berücksichtigt werden müssten.
Psychologisch bleibt zunächst zu bedenken: Solche Sondererfahrungen im Zusammenhang mit Selbsttötungsabsichten könnten ihrer inneren Struktur nach zumindest ein Stück weit abhängig davon sein, ob der betreffende Akt in innerem Unfrieden, aus großer Verzweiflung oder Frustration heraus oder aber in friedlicher Stimmung erfolgt, ja womöglich nach neuen gesetzlichen Regelungen in aller Ruhe ärztlich oder jedenfalls freundlich „assistiert“ ist. Zweifellos spricht einiges für die Annahme, dass sich die jeweilige seelische Befindlichkeit in den besonderen „Raum“ des sich mystisch dehnenden Todesmoments hinein fortsetzt und in berichteten Erfahrungen spiegelt. Insofern sollte allerdings damit gerechnet werden, dass sich unter den gesammelten Schilderungen Suizidaler mitunter auch solche Erlebnisse finden, die nicht „katastrophal“ oder jedenfalls unangenehm verlaufen sind, sondern eher den meist positiven nicht-suizidalen entsprechen. Denn nicht jede Selbsttötung geschieht ja aus akuter Verzweiflung.
Tatsächlich stößt, wer genauer nachforscht, beim Sondieren von Nahtodberichten Suizidaler auf den Befund, dass es da durchaus manche ohne „dämonischen“ oder jedenfalls unangenehmen Anstrich gibt. Schon älteren Datums und daher oft zitiert ist der Fall des aus Liebeskummer Erhängten vom Roten Platz in Moskau: „Ich habe Blumen gesehen, die dreimal so groß waren wie unsere Blumen. Sie dufteten, wie bei uns die schönsten Blumen es im höchsten Sommer nicht vermögen.“ Jemand sagte ihm, dass nun alles gut sei. Als er schließlich nach seiner Mutter suchte, wurde ihm gesagt, dass er sie demnächst finden werde, aber das werde noch etwas dauern. Tatsächlich starb er einige Tage später endgültig. Zuvor hatte er beteuert: „Ich habe Sehnsucht nach dem grünen Land.“
Mystische Erfahrung in einer „anderen Welt“
1982 berichteten die Thanatologen Russell Noyes und Roy Kletti von einer 22-Jährigen, die für ihren Suizidversuch Arzneistoffe mit hypnotischer und narkotischer Wirkung genommen hatte. Ihre Erfahrung in unmittelbarer Todesnähe gestaltete sich als eine mystische Erfahrung in einer „anderen Welt“. Sie meinte, mehr denn je sie selbst zu sein, und zwar tiefer, als sie sich bis dahin gekannt hatte: „Ich hatte das unbeschreibliche Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu werden.“ Im selben Jahr veröffentlichten die Nahtodforscher Kenneth Ring und Stephen Franklin eine Studie, in der auch 17 Suizidale vorkamen; deren Visionen waren allesamt mehr oder weniger „schön“ verlaufen. Daneben gibt es übrigens auch noch Berichte von reanimierten Suizidtätern, denen zufolge ein zunächst negatives Erlebnis sich schließlich doch noch in ein positives wandelte.
Nahtod-Erfahrungen müssen also keineswegs in jedem Fall beängstigenden Charakter tragen. Das bedeutet aber nicht, dass diese wissenschaftliche Beobachtung Suizidale womöglich geradezu zum Freitod ermutigen würde – ganz abgesehen davon, dass solche Visionen „objektiv“ gar nichts beweisen. Es verhält sich aber durchaus so, dass Menschen, die selbst ein Nahtoderlebnis hatten, unabhängig von dessen Ausgestaltung in der Regel kaum mehr geneigt sind, sich umzubringen. Denn diese Grenzerfahrung ist oft ein wenig wie eine Neugeburt: Sie rückt das eigene Ego in ein weitendes Licht, verhilft zu einem geläuterten Selbstverständnis und zu einer intensiveren Hoffnung über den Tod hinaus, wobei sie zugleich neu an die Liebes- und Lern-Aufgaben hier im Diesseits verweist.
Berührung mit der Transzendenz
Aber auch allein die vertiefte Befassung mit Nahtod-Erfahrungen, insbesondere mit seriös präsentierten Resultaten ihrer Erforschung ist geeignet, den Blick in der beschriebenen Richtung zu weiten. Wer meint, sie materialistisch erklären zu können, verfährt zu reduktionistisch: So lässt sich kaum plausibel machen, warum der Leib oder das Gehirn in der Situation des Sterbens evolutionsbiologisch manchmal mit solch einem eindrucksvollen, oft ins Spirituelle weisenden Programm auffährt. Einleuchtender dürfte tatsächlich die Hypothese einer echten, wenngleich vorläufigen Berührung mit der Transzendenz sein. Von daher aber ist die Annahme, ein Suizid – ob „assistiert“ oder nicht – sei bejahenswert, schwerlich weise zu nennen. Entsprechende Einsicht realisiert vielmehr, dass es die Möglichkeit, sich zu töten, im tieferen Sinne gar nicht gibt. Visionen in unmittelbarer Todesnähe können – unabhängig davon, ob sie sich bedrohlich oder herrlich gestaltet haben – dazu dienen, das eigene Selbst- und Gottesverständnis in ein solches Licht zu rücken, dass Suizidgedanken als irregehend durchschaut werden. Offenbar braucht es seelisch vor allem eines: einen geweiteten Horizont.
Auf ihre Weise sind Nahtoderfahrungen geeignet, Menschen in unserem säkularen Zeitalter jene Anschaulichkeit des postmortalen Horizonts zurückzugeben, die wieder glaubhafter erscheinen lässt, was der Apostel Paulus einst als Gewissheit beschrieben hat: „Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel“ (2Kor 5,1). Christenmenschen dürfen sich von ihrem auferstandenen Herrn sagen lassen: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben“ (Joh 14,19). Selbst am Glauben oder am Leben Verzweifelte können Nahtodberichte zumindest im Grundansatz als Bestätigung der biblischen Botschaft empfinden: Gott will, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1Tim 2,4). Nicht verurteilendes Gesetz und Gericht hilft wirklich weiter, sondern Evangelium, himmlische Freudenbotschaft angesichts unserer vergänglichen, unvollkommenen Lebenswirklichkeit.
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