Sterbehilfe

Freiheit, Gleichheit, Schuldenberg

Ein per Los zusammengesetzter Bürgerkonvent empfiehlt die Legalisierung des Assistierten Suizids und der Tötung auf Verlangen. Präsident Macron verspricht prompt ein „französisches Modell“ der aktiven Sterbehilfe bis zum Sommer. Doch Ärzte und Pfleger wollen nicht mitziehen. Und Zweifel, dass es bei dem Bürgerkonvent mit rechten Dingen zuging, gibt es auch.
Präsident Macron verspricht  ein „französisches Modell“ der aktiven Sterbehilfe bis zum Sommer.
Foto: IMAGO/Federico Pestellini (www.imago-images.de) | An dem Ergebnis des von Frankreich Präsident Emmanuel Macron einberufenen Bürgerkonvents wird massive Kritik geübt.

Im Trocadéro-Palast gegenüber dem Eiffelturm sitzt er zusammen, der Bürgerkonvent, den Präsident Emmanuel Macron einberufen hat, um das geltende Gesetz zum Lebensende zu evaluieren. An diesem Sonntagvormittag (2. April) ist der große Plenarsaal gut gefüllt, fast alle der 184 Mitglieder des Konvents sind anwesend. Kein Wunder, denn der zu verabschiedende Abschlussbericht soll buchstäblich über Leben und Tod entscheiden. „Zuhören“, „Respekt“, „Wohlwollen“, das sind die Begriffe, die immer wiederkehren in der Feedback-Runde an diesem letzten von 27 Sitzungstagen seit Dezember. Und tatsächlich herrscht eine friedliche, fast heitere Stimmung.

Des Menschen Wolf

Nach Monaten gemeinsamer Arbeit scheint die Gruppe zusammengewachsen, ein gewisses Gemeinschaftsgefühl macht sich bemerkbar. Szenen, die man aus dem Parlamentsbetrieb so nicht mehr gewohnt ist, wo der Mensch endgültig des Menschen Wolf geworden zu sein scheint. Nach Verabschiedung des Berichts kommt Feierlaune auf, die eigentlich so gar nicht zu den schwerwiegenden Entscheidungen passen will, die hier getroffen wurden. Denn mit ihrem Abschlussbericht fordern die Mitglieder des Konvents den Staatspräsidenten auf, den Weg für die Euthanasie freizumachen, in Form von assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen.

Nicht alle Arbeitssitzungen waren öffentlich, unter der Oberfläche scheint es auch intensive Debatten gegeben zu haben. Ruhig, aber nicht ohne Emotion sind die Stimmen der wenigen, die das Forum der letzten Sitzung nutzen, um ihren Standpunkt als Minderheit noch einmal deutlich zu machen. „Warum wollen Menschen sterben?“, hätten seine Nichten ihn gefragt, als er seine Teilnahme am Bürgerkonvent erklärt habe, erzählt Zacharie. „Weil sie einsam sind und glauben, für andere eine Last zu sein. Deshalb müsst ihr immer für andere Menschen da sein, Liebe schenken“, habe er den Mädchen geantwortet. Eine afrikanischstämmige Dame, deren Name nicht genannt wird, sagt eindringlich: „Ich hoffe, dass mein Sohn mir nicht eines Tages zu verstehen geben wird, dass der einfachste Weg durch die Tür des assistierten Suizids führt.“ Mohammed wird noch deutlicher: „Für mich ist der assistierte Suizid eine inhumane Praxis, zu der niemals ermutigt werden darf. Stattdessen müssen wir Menschen helfen, die an Selbstmord denken.“

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Hohes Alter und Autonomie

Das aktuelle Gesetz Claeys-Leonetti von 2017 untersagt jede Form der Euthanasie, erlaubt aber Personen am Lebensende eine Tiefensedierung bis zum Tod und fordert vor allem einen flächendeckenden Zugang zur Palliativbegleitung. An letzterem mangelt es gewaltig. Wie eine Senatskommission 2021 festgestellt hat, kommt in Frankreich nur ein Drittel der Personen, die Palliativsorge benötigen, tatsächlich in ihren Genuss. Palliativbetten, Ärzte und Pflegekräfte kosten jedoch Geld, und das ist in den französischen Sozialkassen knapp. Dass die Regierung nicht bereit ist, hier durch Staatsverschuldung Ausgleich zu schaffen, zeigt der Zankapfel Rentenreform.

Ein geplantes Gesetz namens „Hohes Alter und Autonomie“, das unter anderem einen neuen Zweig der Sozialversicherung geschaffen hätte, war 2020 bereits heimlich, still und leise in der Versenkung verschwunden.

„Zeichen von Brüderlichkeit und Solidarität“

„Ist der Rahmen für die Sterbebegleitung an die unterschiedlichen möglichen Situationen angepasst oder braucht es eventuelle Änderungen?“. So lautete die Frage, auf die die Konventsmitglieder eine Antwort geben sollte. An neun Wochenenden haben sie seit Dezember des vergangenen Jahres an der Beantwortung der Frage gearbeitet und dabei mit Medizinern, Philosophen, Pro-Euthanasie-Aktivisten, Repräsentanten der großen Religionen und der Freimaurerlogen gesprochen. 75 Prozent der Mitglieder des Bürgerkonvents sprachen sich am Ende für eine Legalisierung von assistiertem Suizid und Euthanasie aus, 23,2 Prozent dagegen. „Die aktive Sterbehilfe steht nicht im Widerspruch zur Achtung vor dem Leben und ist Teil eines umfassenden Pflegekonzepts. Sie ergänzt die Palliativmedizin und ist eine zusätzliche Möglichkeit für Patienten, eine Wahl zu treffen“, argumentiert der Abschlussbericht. Außerdem gebe die aktive Sterbehilfe die Möglichkeit, „den eigenen Tod in einem sicheren Rahmen vorzubereiten und die Angehörigen in den Sterbeprozess einzubeziehen“. Und schließlich: „Für uns ist die aktive Sterbehilfe ein Zeichen von Brüderlichkeit und Solidarität.“

Der Konvent wünscht ferner, „die öffentliche Debatte zu animieren, statt sie abzuschließen“. Doch die Aufmerksamkeit blieb eher gering, den Livestream der öffentlichen Debatten verfolgen selten mehr als 100 Leute gleichzeitig. Die, die sich zu Wort melden, sind mit der vorgebrachten Interpretation von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ am Lebensende nicht einverstanden.

Erklärung gegen aktive Sterbehilfe

Schon im Februar hatte ein Zusammenschluss von 13 Berufsverbänden, die gemeinsam 800 000 Pflegekräfte vertreten, erklärt: „Die Legalisierung eines in welcher Form auch immer medizinisch verabreichten Todes würde den Begriff der Pflege in sein Gegenteil verkehren.“ Auch die Nationale Ärztekammer ist strikt gegen die Teilnahme von Ärzten an „einem Prozess, der zur Euthanasie führt, denn ein Arzt kann nicht wissentlich durch Verabreichung eines tödlichen Produkts den Tod herbeiführen.“ Auf ihrer Frühjahrsvollversammlung verabschiedeten auch die französischen Bischöfe erneut eine Erklärung gegen aktive Sterbehilfe.

Im Herbst vertraute Präsident Macron die Ausrichtung des Bürgerkonvents dem Rat für Wirtschaft, Soziales und Umwelt (CESE) an. Dessen Präsident Thierry Beaudet ist als Verfechter der Euthanasie bekannt. „Alle Beobachter sind sich einig, dass dieser Konvent pluralistisch, offen und frei war“, verkündete Beaudet beim Abschluss des Konvents. Stimmen, die hinter der Einrichtung des Bürgerkonvents von Anfang an ein abgekartetes Spiel zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe vermutet hatten, sahen sich jedoch im Verlauf der Sitzungen bestätigt. Die Wahl der externen Redner war zum größten Teil auf Befürworter von Euthanasie und assistiertem Suizid gefallen. Am ersten Sitzungswochenende im Dezember kamen gar ausschließlich sie zu Wort.

Gelenkte Debatte

War die Euthanasie von den teilnehmenden Bürgern eingangs als einer unter vielen Aspekten des Themas „Lebensende“ wahrgenommen worden, so wurde die Arbeit durch die Auswahl der Redner und der zu bearbeitenden Themenblöcke sehr schnell in Richtung assistierter Suizid und Tötung auf Verlangen gelenkt. Bereits nach den ersten Sitzungen ging es nicht mehr um das „Ob“, sondern nur noch um das „Wie“ der aktiven Sterbehilfe.

Auch unter den Angehörigen des Konvents machte sich Unbehagen breit. Anfang März berichtete der „Figaro“ über einen Beschwerdebrief von vierzig Konventsmitgliedern an den CESE-Präsidenten. Die partielle Veröffentlichung von Zwischenergebnissen im Februar habe in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, der Konvent spreche sich bereits endgültig für aktive Sterbehilfe aus. Die Unterzeichner des Briefes monierten, dass der CESE gleichzeitig den breiten Konsens unter den Tisch kehre, der sich im Konvent in punkto Ausbau und Verbesserung der Palliativsorge gebildet habe. Gegenüber dem „Figaro“ sprachen einzelne Mitglieder des Konvents von Manipulation. „Ich habe den Eindruck, dass die Würfel gezinkt sind“, teilt eine Teilnehmerin mit. „Es ist, als ob die Ausrichtung der Debatten und Beratung auf eine Gesetzesänderung um jeden Preis abzielen sollte“, verlieh ein anderer seinem Missfallen Ausdruck. Der Wunsch nach dem gemeinsamen Besuch eines Sterbehospizes war ebenfalls abgelehnt worden.

Streben nach Legitimität

Gleichzeitig wird der Bürgerkonvent nicht müde, seine eigene Legitimität zu unterstreichen. „Die demokratische Übung, die ihr verkörpert habt, verleiht euch eine große Legitimität“, rief Claire Thoury als Präsidentin des Konvents ihren Mitstreitern am letzten Sitzungstag unter stehendem Applaus zu. Dies habe dem demokratischen Leben gefehlt, so Beaudet. In Zeiten, in denen sich die Regierungspartei ihre Mehrheiten zusammenkratzen muss, ist Parlamentskritik wohlfeil.

Eine „demokratische Übung“, die den gewünschten Ausgang genommen hat – Präsident Macron hatte schon vor Monaten der Euthanasie-Aktivistin und Schauspielerin Line Renaud eine Evaluation des Gesetzes versprochen. Seine Reaktion auf die Ergebnisse des Konvents ließ dann auch nicht lange auf sich warten: Schon einen Tag später kündigte er für den Sommer ein neues Gesetz zum „französischen Modell der aktiven Sterbehilfe“ in Form von assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen an. Dass er den Konvent selbst als „Heilmittel“ gegen die „verrostete Demokratie“ pries und zukünftige Konvente zu weiteren Themen ankündigte, wundert bei dem Ergebnis wenig. Eher vage blieb er, was die zahlreichen konkreten Vorschläge des Konvents zum flächendeckenden Ausbau der Palliativpflege angeht. Ihnen widmete der Konvent immerhin mehr als ein Drittel seines Abschlussberichts. Doch die Sanierung des Gesundheitssystems kostet Geld, die Einführung der Euthanasie nur Menschenleben. Und was Präsident Emmanuel Macron im Moment am dringendsten braucht, ist eine Maßnahme, die den Schuldenberg nicht weiter anhebt.

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