Oregon

Fake News

Der US-Bundesstaat Oregon gilt vielen als das „Paradiesgärtlein der Suizidhilfe“. Nichts könnte falscher sein.
US-Bundesstaat Oregon: „Paradiesgärtlein der Suizidhilfe“
| Ein Gesetz im US-Bundesstaat Oregon erlaubt Ärzten unter Auflagen, Suizidwilligen tödliche Substanzen zu verschreiben.

Vergangenen Monat haben vier Hochschullehrer im Münchner Presseclub einen ersten Gesetzentwurf zur Regelung des assistierten Suizids (DT v. 25.6.) vorgestellt. Bei den vier Professoren handelt es sich um den Palliativmediziner Gian Domenico Borasio (Universität Lausanne), die beiden Medizinethiker Ralf Jox (LMU München) und Urban Wiesing (Universität Tübingen) sowie den Mannheimer Medizinrechtler Jochen Taupitz. Wie die vier in einer Pressemitteilung schreiben, lehne sich ihr Gesetzesvorschlag „an das Modell im US-Bundesstaat Oregon an, wo die Suizidbeihilfe seit 1997 gesetzlich geregelt ist“.

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Und weiter heißt es: „Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben die Sorgen vor negativen Auswirkungen zerstreut, etwa im Hinblick auf die über mehr als 20 Jahre niedrig gebliebene Gesamtzahl der assistierten Suizide. Das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Ärzte hat nicht Schaden genommen, und die Palliativversorgung hat sich deutlich verbessert. Die Suizidhilfe hat nicht dazu geführt, dass Angehörige nach dem Tod vermehrt belastet wären; ebenso wenig konnte ein sozialer Druck auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen (z.B. Ältere, Mittellose, Behinderte, ethnische Minderheiten) festgestellt werden.“

„Paradiesgärtlein der Suizidhilfe“

Grund genug also für das Ressort „Glaube und Wissen“, einmal einen Blick auf Oregon zu werfen, das nicht nur den vier Hochschullehrern als „Paradiesgärtlein der Suizidhilfe“ (F.A.Z.) gilt. Zuvor sollte man jedoch wissen: In dem im Nordwesten der USA gelegenen Küstenstaat trat im November 1997 der sogenannte „Death with Dignity Act“ in Kraft. Das Gesetz, dem zwei Bürgerbegehren vorausgingen, erlaubt in Oregon zugelassenen Ärzten unter einer Reihe von Auflagen, Sterbewilligen ein Rezept auszustellen, mit dem diese Präparate beschaffen können, die als zur Selbsttötung geeignet befunden werden.

Die gesetzlichen Auflagen

Der Suizidwillige muss mindestens 18 Jahre alt sein und in Oregon leben. Er muss entscheidungs- und kommunikationsfähig sein und an einer tödlichen Krankheit leiden, die einen natürlichen Tod binnen sechs Monaten für wahrscheinlich erachten lässt. Des Weiteren muss der Suizidwillige sein Ersuchen um das tödliche Rezept schriftlich formulieren und im Abstand von mindestens 15 Tagen wiederholen. Der betreffende Arzt und ein von ihm zu konsultierender Kollege müssen den Suizidwilligen untersuchen, Diagnose und Prognose bestätigen und dem Betreffenden assistieren, an keiner psychischen Erkrankung zu leiden. Ferner muss der Arzt den Suizidwilligen über alternative Angebote der Palliativmedizin und Hospizarbeit informieren und ihn auffordern, seine Verwandten zu informieren. All das muss der Arzt dokumentieren und an die zuständige Aufsichtsbehörde, das „Oregon Department of Human Services“ senden.

Die Aufsichtsbehörde veröffentlicht jedes Jahr einen Bericht, in dem die Entwicklung seit Inkrafttreten des Gesetzes dokumentiert wird.

Zahlen, Daten, Fakten

Demnach haben Ärzte in Oregon seit dem Inkrafttreten des Gesetzes bis Ende vergangenen Jahres 2 518 tödliche Rezepte ausgestellt. Mindestens 1 657 Patienten starben an den Folgen der Einnahme der tödlich wirkenden Präparate. 2019 waren es 188, fast zwölfmal so viel wie 1998 (16). Ihr Durchschnittsalter betrugt zum Zeitpunkt des Suizids 74 Jahre. 51 Prozent von ihnen waren geschieden, verwitwet oder nie verheiratet.

Viele der „Death with Dignity Act“ vorgeschriebenen Auflagen machen sich gut auf Papier, in der Praxis sind sie jedoch völlig bedeutungslos. So können die den Patienten untersuchenden Ärzte zum Beispiel frei entscheiden, ob sie den sterbewilligen Patienten von einem Facharzt psychologisch begutachten lassen, oder nicht. Zwischen 1997 und 2017 war dies bei weniger als fünf Prozent der Patienten der Fall. 2018 ging dieser Wert auf 1,7 Prozent (3 von 178) und 2019 noch einmal, nämlich auf 0,5 Prozent (1 von 188) zurück. Wundern wird dies nur den, der nicht weiß, dass viele der Ärzte, die die Rezepte ausstellen, mit denen sich Sterbewillige anschließend die tödlichen Substanzen beschaffen können, Mitglieder der Sterbehilfe-Organisation „Compassion and Choices“ sind.

Manche „todgeweihte“ leben länger

Laut dem Gesetz muss der um das Rezept nachsuchende Patient an einer „unheilbaren und irreversiblen Krankheit“ leiden, die „medizinisch bestätigt wurde und nach begründeter medizinischer Beurteilung innerhalb von sechs Monaten zum Tode führt“. Wie zuverlässig solche Diagnosen sind, lässt sich nicht feststellen. Schon gar nicht bei Patienten, die die todbringenden Präparate binnen sechs Monaten einnehmen, und bei denen der Totenschein anschließend von demselben Arzt ausgestellt wird, der auch die tödliche Substanz rezeptiert hat.

Glaubt man dem Sekretariat für Lebensschutz-Angelegenheiten der US-amerikanischen Bischofskonferenz, dann leben von den angeblich Todgeweihten, die die verschriebenen Mittel nicht einnehmen, jedoch einige mitunter erstaunlich lange. Berichtet werden Fälle von Patienten, die mit den „unheilbaren“ und „irreversiblen Krankheiten“, die binnen sechs Monaten zum Tode führen, auch noch zwei, drei und sogar mehr als vier Jahre lebten.

Oftmals keine Krankenversicherung

Das passt zu dem Umstand, dass „unbehandelte Schmerzen oder die Sorge um zukünftige“ (33 Prozent) für die Mehrzahl der Suizidwilligen in Oregon offenbar gar nicht das Hauptmotiv ist. Stattdessen gaben bei der letzten Befragung (Mehrfachnennung möglich) 90 Prozent an: „weniger in der Lage zu sein, Aktivitäten durchzuführen, die das Leben angenehm machen“. 87 Prozent führten an, „die Autonomie zu verlieren“, 59 Prozent wollten keine „Belastung“ für Familie, Freunde oder Betreuer sein und immerhin sieben Prozent gaben an, sich „finanzielle Sorgen“ wegen der Kosten der Behandlung zu machen. 1998 hatten dies nur zwei Prozent vermerkt.

Auffällig ist auch: Die Mehrzahl derer, die in Oregon von dem „Death with Dignity Act“ Gebrauch machen, haben entweder gar keine oder aber nur eine staatliche Krankenversicherung. 2019 traf dies für 70 Prozent der Fälle zu.

Komplizierter Suizid

Das Sekretariat für Lebensschutz-Angelegenheiten der US-amerikanischen Bischofskonferenz interpretiert die von der Aufsichtsbehörde jährlich vorgelegten Daten denn auch wie folgt: „Es scheint, dass einsame, abhängige und chronisch kranke Senioren die Hauptkandidaten für den assistierten Suizid in Oregon sind.“

Ein Tod, der in vielen Fällen noch nicht einmal ein leichter zu sein scheint. Bei acht der in Oregon im vergangenen Jahr 188 durchgeführten Suizide kam es zu „Komplikationen“. In einem Fall soll der Suizident ganze 47 Stunden mit dem Tod gerungen haben, bevor dieser ihn ereilte. Gemeldet werden „Komplikationen“ allenfalls in solchen Fällen, in denen die Suizidenten von medizinischem Fachpersonal begleitet wurden. 2019 war dies den Angaben zufolge in 127 Fällen jedoch gar nicht der Fall. Dass sie allesamt komplikationsfrei verliefen, ist wenig wahrscheinlich.

Fake News

Die vier Hochschullehrer, die ihren Gesetzentwurf an den „Death with Dignity Act“ angelehnt haben, meinen zudem, mit ihrem Gesetzesvorschlag ließen sich nicht-frei verantwortete Suizide verhindern. Das wäre theoretisch dann denkbar, wenn Ärzte bei einer ernsthaften und gewissenhaften Prüfung der „Freiwilligkeit, Ernsthaftigkeit und Beständigkeit“ eines Suizidwunsches, wie sie den Professoren vorschwebt, psychische Erkrankungen wie Depressionen erkennen und die Betroffenen für eine Therapie gewinnen könnten.

Freunde des abenteuerlichen Denkens mögen dabei den Gedanken, dass ausgerechnet die gesetzliche Regelung von Suiziden eine suizidpräventive Wirkung entfalten soll, womöglich derart spannend und aufregend finden, dass sie es auf einen Versuch ankommen lassen wollen. Da es sich jedoch in diesem Fall um Menschenleben handelt, kann davon nur abgeraten werden.

Empirische Widersprüche

Zumal die Empirie zu völlig anderen Ergebnissen kommt. 2015 fragten der Medizinethiker David Jones und der Ökonom David Paton „Wie wirkt sich die Legalisierung ärztlicher Suizidbeihilfe auf die Suizidrate aus?“ Für die Studie verglichen die Wissenschaftler die Suizidraten vor und nach der Einführung entsprechender Gesetze in Staaten wie Oregon, Montana, Vermont und Washington State mit denen anderer US-Bundesstaaten. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie damals im „Southern Medicial Journal“. Dabei fanden sie heraus, dass eine Legalisierung ärztlicher Beihilfe zum Suizid mit einer Zunahme der Gesamtsuizide um 6,3 Prozent korrelierte. Bei Personen, die älter als 65 Jahre alt waren, war dieser Effekt noch ausgeprägter. Hier nahm die Gesamtzahl der Suizide um 14,5 Prozent zu. Mit anderen Worten: Eine gesetzliche Regelung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid führt nicht zu einer Abnahme von Selbsttötungen, sondern vielmehr zu deren Zunahme. Ergo: Wer Oregon zum „Paradiesgärtlein der Suizidhilfe“ verklärt, verbreitet nur eine weitere „Fake News“.

 

Kurz notiert

Ende 1997 erließ der Gesetzgeber des US-Bundesstaates Oregon den „Death with Dignity Act“. Das Gesetz erlaubt Ärzten unter Auflagen, Suizidwilligen tödliche Substanzen zu verschreiben. An dieses Gesetz lehnt sich nun auch ein Gesetzesvorschlag an, den vier Hochschullehrer vergangenen Monat für eine verfassungskonforme deutsche Regelung vorgestellt haben. Dabei zeigen die Daten aus Oregon sowie eine Studie aus dem Jahr 2015, was davon zu halten ist: Gar nichts.

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Stefan Rehder David Jones Medizinethiker Palliativmedizin

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