Im vergangenen Jahr überraschte der chinesische Biophysiker He Jiankui die Welt und die Wissenschaft, als er am 25. November die Geburt von zwei Zwillingsmädchen bekannt gab, deren Erbgut er zuvor im Alleingang mit der CRISPR/Cas-Technologie genetisch verändert hatte. So schien es jedenfalls, nachdem sich die Gemeinschaft der Wissenschaftler, die „scientific community“, auf dem 2. Internationalen Gipfeltreffen der CRISPR/Cas-Forscher Anfang Dezember in Hongkong völlig schockiert über die Experimente des Chinesen gezeigt hatte.
Geschichte muss neu geschrieben werden
Diese Geschichte muss nun offenbar korrigiert werden. Denn Anfang August erschien in der Fachzeitschrift „Science“ ein Beitrag des Wissenschaftsjournalisten Jon Cohen mit dem Titel: „Die unerzählte Geschichte des Vertrautenkreises hinter den ersten geneditierten Babys der Welt“.
Cohen zufolge „wussten oder vermuteten“ rund 60 Leute, die alle selbst nicht an He’s Humanexperiment beteiligt waren, dass er beabsichtigte, das Erbgut im Labor erzeugter Kinder genetisch zu verändern, um sie anschließend von ihren Müttern austragen und gebären zu lassen. Zu dem Kreis der Vertrauten sollen führende Wissenschaftler aus China und den USA – darunter ein Nobelpreisträger – ebenso gehört haben, wie Führungskräfte aus der Wirtschaft und mindestens ein chinesischer Politiker. Damit nicht genug: Mit einem in New York ansässigen Spezialisten für künstliche Befruchtungen soll He gar die Eröffnung einer Fruchtbarkeitsklinik für genetisch veränderte Kinder diskutiert und Pläne dazu vorangetrieben haben.
Dass außer He’s Team noch rund fünf Dutzend andere Menschen von seinem Vorhaben wussten, bedeutet nicht, dass alle ihn darin unterstützt hätten. Einige von ihnen hätten He, als er sie ins Vertrauen zog, „scharf kritisiert“. Andere „scheinen seine Pläne begrüßt oder nichts getan zu haben“, schreibt Cohen. Zu denjenigen, die He kritisierten und ihn von seinen Plänen abzubringen suchten, gehört auch der Arzt und Neurobiologe William B. Hurlbut. Der heute 74-Jährige, der acht Jahre lang (2002–2009) dem „President’s Council on Bioethics“ angehörte, das den US-amerikanischen Präsidenten in bioethischen Fragen berät, zählt zu den angesehensten Bioethikern der Welt. Der Katholik, der nach seinem Medizinstudium und der Ausbildung zum Arzt noch Theologie und Medizinethik studierte, lehrt und forscht auch heute noch als außerplanmäßiger Professor an der Standford University in Palo Alto, Kalifornien. Weltweit bekannt wurde er, als er 2005 eine Alternative für die Gewinnung pluripotenter Stammzellen präsentierte, bei der keine menschlichen Embryonen erzeugt und zerstört werden.
Nach dem weltweiten Entsetzen über He’s Experimente hätten viele seiner einstigen Unterstützer den Biophysiker „vor den Bus“ geworfen. „Jeder rannte zu den Ausgängen, sowohl in den USA als auch in China“, zitiert Cohen Hurlbut. Er, Hurlbut, denke, „jeder täte besser daran, offen zuzugeben, was er wusste und was er tat, um dann gemeinsam zu erklären, den Leuten sei nicht klar gewesen, was zu tun sei. Wir sollten alle zugeben, dass das ein ungewohntes Terrain ist.“
Planspiele werden erörtert - auch im Westen
Das ungewohnte Terrain hinderte den Reproduktionsmediziner John Zhang, dessen New Yorker Fruchtbarkeitsklinik „New Hope“ zu einer der am stärksten frequentierten Kinderwunschkliniken der USA gehört, jedoch nicht, mit He Planspiele für die Eröffnung einer Klinik für die Erzeugung genetisch veränderter Kinder zu erörtern. Laut Cohen trafen sich He und Zhang bereits im August 2018 in New York zu diesem Zweck. Später sollen sie gemeinsam mehrere Orte in China besucht haben, darunter auch Hainan, eine tropische Insel im Süden des Landes, die sich laut der staatlichen Tageszeitung „China Daily“ zu einem „Weltklasse-Zentrum für Medizin-Tourismus“ entwickeln will.
Dass He und Zhang offenbar die Möglichkeit einer Zusammenarbeit ausgelotet haben, ist vor allem deshalb interessant, weil Zhang in der Branche kein Unbekannter ist. Im Jahr 2016 hatte er selbst für Schlagzeilen gesorgt, als der „New Scientist“ meldete, dass Zhang das erste „Drei-Eltern-Baby“ geschaffen habe. Das Verfahren dazu war einige Jahre zuvor von dem russischen Klon- und Stammzellforscher Shoukhrat Mitalipov entwickelt worden. Der an der Oregon Health and Science University in Portland forschende Mitalipov hat eine Technik entwickelt, die Frauen, die an Mitochondriopathien leiden, davor bewahren soll, diese auf ihre Kinder zu vererben.
Mitochondriopathien treten höchst selten auf, können aber zu unterschiedlich stark ausgeprägten Herzerkrankungen sowie Taubheit, Blindheit, Nervenleiden und Diabetes führen. In den USA, wo jährlich rund 4,8 Millionen Kinder geboren werden, erkranken Schätzungen zufolge zwischen 1 000 und 4 000 von ihnen an einer Mitochondriopathie.
Mitochondrien sind wichtige Organellen, die von Biologen als „Kraftwerke“ der Zellen bezeichnet werden und sich im Zytoplasma finden. Sie beherbergen etwa ein Prozent des menschlichen Erbgutes. Die 37 Gene der mitochondrialen DNA kodieren – nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft – für 13 Proteine und werden nur von Frauen auf ihre Kinder vererbt. Bei der von Mitalipov entwickelten Technik werden zunächst die Eizellen der an einer Mitochondriopathie leidenden Frau entkernt. Anschließend werden die Zellkerne in die Eizellhüllen ebenfalls entkernter Eizellen einer Frau mit gesunder mitochondrialer DNA eingebracht. Die Eizellen enthalten nun die mitochondriale DNA der Spenderin sowie den Chromosomensatz der an der Mitochondriopathie leidenden Frau. Anschließend könnten die Eizellen mit dem Sperma des Partners der an einer Mitochondriopathie leidenden Frau befruchtet und dieser eingesetzt werden. Auf diese Weise erzeugte Embryonen würden genetisch von zwei Frauen und einem Mann abstammen.
Da derartige Experimente in den USA aber nicht erlaubt sind, wich Zhang damals kurzerhand nach Mexiko aus. Auch die mit He diskutierte Klinik hätte nicht in den USA eröffnet werden sollen. Neben China soll als möglicher Standort auch Thailand im Gespräch gewesen sein.
Zahlreiche Wissenschaftler nahmen He in ihren Netzwerken auf
Glaubt man Cohen’s Enthüllungen, dann standen jedenfalls eine relevante Anzahl von Wissenschaftlern, Forschungsfunktionären und potenziellen Geldgebern He’s Vorhaben keineswegs ablehnend gegenüber. Einige vermittelten ihm vielmehr wertvolle Kontakte und ermöglichten ihm Zugang zu ihren Netzwerken.
Die Sympathien für die Veränderung der menschlichen Keimbahn sind in der Gemeinschaft der Wissenschaft also viel höher, als bisher gemeinhin angenommen wurde. Vergangene Woche erst beklagte Mildred Solomon, die Präsidentin des Hastings Center mit Sitz in Garrison, New York, im „Scientifc American“ eine zunehmende Verwischung „der Grenzen zwischen Eingriffen in die menschliche Keimbahn und somatischen Gentherapien“. Das gegenüber der Militärakademie West Point auf der anderen Seite des Hudson River gelegene Hastings Center ist eine der bedeutendsten und einflussreichsten Denkfabriken auf dem Feld der Bioethik. Lange Zeit sei es „wissenschaftlicher und bioethischer Konsens“ gewesen, „dass wir keine Veränderungen an der menschlichen Keimbahn vornehmen“ und „Keimzellen und Embryonen nicht auf eine Weise verändert werden sollten, die dauerhaft ist und alle zukünftigen Generationen betrifft“, schreibt Solomon.
Nun aber wachse das „Gefühl der Unvermeidlichkeit, dass wir irgendwann die Keimbahn des Menschen modifizieren und dass wir nur noch warten müssen“, bis die dazu verwandte CRISPR/Cas-Technologie „sicher“ sei. Solomon, die auch in Harvard lehrt, fordert stattdessen einen breiten Dialog zu „Themen, die über die Sicherheit hinausgehen“. Die Veränderung der menschlichen Keimbahn sei ein Paradebeispiel dafür, dass die Taten Einzelner auch dann Konsequenzen für alle besitzen könnten, wenn diese zunächst gar nicht intendiert seien.
Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn Eltern durch Veränderung der Gene ihrer Kinder danach trachteten, diesen Vorteile zu verschaffen. Gefragt werden müsse, ob und inwiefern solche „privaten Entscheidungen“ nicht die „Beziehung zwischen Eltern und Kindern, sowie die Tugenden, die wir in unseren Gemeinschaften sehen wollen, beeinflussen. Wie der Harvard-Philosoph Michael J. Sandel fürchtet auch Solomon, dass Eltern Kinder in Zukunft immer weniger als „Geschenke“ und immer stärker als „Objekte, die wir entworfen haben“, betrachten könnten. Gefragt werden müsse auch, so Solomon weiter, welche Auswirkungen dies für das Selbstverständnis von Kindern haben könne: „Fühlen sich Kinder, deren musikalisches Talent oder sportliche Fähigkeiten verbessert wurden, verpflichtet, die Träume ihrer Eltern noch stärker zu erfüllen, als dies üblicherweise bei Kindern der Fall ist?“
Die Büchse der Pandora
Um sich sämtliche Auswirkungen dieser Technologie vor Augen zu führen, sei laut Solomon „dauerhafter Mut“ erforderlich. Auch könne es in einer pluralistischen Gesellschaft durchaus „beängstigend sein“, die Büchse der Pandora zu öffnen und über tief verwurzelte Werte zu diskutieren. Angesichts so vieler unterschiedlicher Ansichten sei es natürlich einfacher, sich auf Sicherheitsfragen zu konzentrieren. Allerdings gehe eine Vermeidung des „größeren und schwierigeren Gesprächs“ zu Lasten „unserer Enkelkinder“.
Viel Zeit wird dazu nicht bleiben. Denn mit dem Mikrobiologen Denis Rebrikov, der an der Staatlichen Medizinischen Universität in Moskau forscht, steht bereits ein Forscher in den Startlöchern, der angekündigt hat, in He’s Fußstapfen treten zu wollen. Noch will Rebrikov auf eine Genehmigung des russischen Gesundheitsministeriums warten. Aber wer weiß schon, ob für den Fall, dass diese ausbleiben sollte, Rebrikov nicht doch Kontakt zu Zhang aufnimmt?
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