Würzburg

Die Illusion der Eindeutigkeit

Viele Menschen sehnen sich nach einer neuen Eindeutigkeit. Und tatsächlich ließe sich die Mehrdeutigkeit von Begriffen, Symbolen, Gefühlen und Wünschen oftmals in Eindeutigkeit überführen. Nur zum Nulltarif ist das eben nicht zu haben.
Der Fingerabdruck ist einmalig
Foto: Stefanie Paul (dpa) | Ein Fingerabdruck ist einmalig. Er sieht bei jedem Menschen anders aus. (Symbolbild)

Illusionen sind negativ konnotiert. Das ist insofern verständlich, als Illusionen einem Wunschdenken zu entspringen pflegen, das auf Selbsttäuschungen basiert und in aller Regel dazu führt, dass Sachverhalte weitaus positiver darstellt werden, als sie es in Wirklichkeit sind. So wird beispielsweise die Übergriffigkeit sogenannter „Helikopter-Eltern“ von diesen selbst – und mitunter sogar von ihren Kindern – häufig als Ausweis besonders ausgeprägter Liebe und Fürsorge verbucht. In Wirklichkeit fällt es solchen Eltern nur schwer, sich selbst zurückzunehmen und den oft schon erwachsenen Kindern zu gestatten, die volle Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Anstatt mit Rat und Tat erst dann nicht zu geizen, wenn beides auch an- und nachgefragt wird, „hovern“ sie wie Hubschrauber über dem Leben ihrer Sprösslinge, und „bereichern“ es so ungefragt und penetrant mit Ratschlägen, die von der Auswahl der Tapete für die eigenen vier Wänden bis zur Wahl des Promotionsthemas oder gar des Ehegatten reichen kann. Andererseits gibt es vermutlich keinen einzigen Menschen, der keinerlei Illusionen besitzt. Denn Illusionen pflegen das Leben einfacher und mitunter erst erträglich zu machen. Annähernd völlig desillusionierte Menschen enden daher auch meist als Zyniker. Illusionen, so scheint es, sind offenbar janusköpfig, mehrdeutig oder auch ambivalent.

Mehrdeutigkeit ertragen und aushalten

Die Mehrdeutigkeit von Begriffen, Symbolen und Sachverhalten, aber auch von Gefühlen und Wünschen ertragen und aushalten zu können, ist eine Kulturfertigkeit, die heute immer mehr Menschen zunehmend abhanden zu kommen scheint. Und das unabhängig davon, wo sie sich selbst innerhalb von Gesellschaften verorten: Links, rechts oder irgendwo dazwischen. Nirgendwo lässt sich dies derzeit wohl besser beobachten als in den Debatten um Einwanderung und Klimawandel.

Beispiel Einwanderung: Auf allen Seiten lässt sich der Wunsch nach Eindeutigkeit hier geradezu mit den Händen greifen. Wo die einen geradezu hysterisch eine „Islamisierung des Abendlandes“ an die Wand malen und dabei etwa unterschlagen, dass es „den Islam“ gar nicht gibt, brandmarken die anderen gleich jeden als „Rassisten“, der etwa eine Erklärung dafür wünscht, warum die zuständigen Bundesländer nur einen Bruchteil derjenigen Menschen auch tatsächlich in ihre Heimatländer zurückführen, deren Asylgesuch abschlägig beschieden wurde.

In Wirklichkeit ist alles ganz anders: So wenig wie diejenigen, die vor Verfolgung, Krieg und islamistischem Terror oder auch nur – in der Illusion – hier ein besseres Leben beginnen zu können, aus ihren Heimatländern fliehen, als nächstes die Halbmondflagge auf dem Deutschen Eck hissen wollen, so wenig werten diejenigen, die sich fragen, was Recht und Gesetz wert ist, das nicht vollzogen wird, prinzipiell Menschen ab, die erkennbar aus einem anderen Kulturkreis stammen.

Klimawandel als Paradebeispiel

Beispiel Klimawandel: Während die einen jede Einflussnahme von Menschen auf die Veränderung des Klimas leugnen, sind für andere allein die Menschen für den Klimawandel verantwortlich. Hier gebiert der Wunsch nach Eindeutigkeit Forderungen, die absurder gar nicht sein könnten. Während die einen nämlich fordern, den Klimawandel einfach zu ignorieren, obwohl es den Polkappen herzlich egal ist, wer sie zum Schmelzen bringt, und so tun, als gäbe es keine Pflicht des Menschen, sich mit verändernden Parametern zum Wohle der Nachwelt verantwortungsvoll auseinanderzusetzen – fordern die anderen, keine Menschen mehr in die Welt zu setzen, damit sich der Planet von ihrer Last erholen könne.

In Wirklichkeit ist auch hier alles ganz anderes. Wir verbrauchen mehr Ressourcen als wir dürften, um ein gedeihliches Fortleben der Menschheit auf der Erde sicherzustellen. Die Unfähigkeit, uns einzuschränken, führt dazu, dass überall auf dem Globus Meere überfischt und vermüllt werden, Böden versalzen, Wälder – CO2-Tauscher und Sauerstofflieferanten – verschwinden. Andererseits gibt es diesen Lebensraum nur, weil es uns gibt. Es ist völlig absurd, den Planeten retten zu wollen, aber die ihn bevölkernde Menschheit nicht.

Auch Christen sind vor der Versuchung, Eindeutigkeit zu verlangen, wo Mehrdeutigkeit ausgehalten und bewältigt werden muss, nicht gefeit. Beispiel: der oft mit besonderer Verbissenheit ausgetragene Liturgiestreit. Natürlich lohnt es sich, darüber streiten zu wollen, welche Zeichen dem richtigen Verständnis des Heiligen Messopfers zuträglich und welche ihm abträglich sind. Nur Eindeutigkeit kann es auch hier nicht geben. Denn Jesus hat das Letzte Abendmahl weder im alten noch im neuen Ritus gefeiert.

Ist Gott mehrdeutig?

Ähnliches gilt für diejenigen, die heute ganz genau zu wissen meinen, wie ein Papst zu sein habe und die mitunter fehlende Eindeutigkeit als absolutes „No go“ betrachten. Nun, der erste Papst – von Jesus selbst bestellt – war jedenfalls Fischer und kein Professor. Er trug weder rote noch schwarze Schuhe, sondern, falls überhaupt, Sandalen. Er war ein in Jesus leidenschaftlich Verliebter, ein feiger Verräter und doch der Fels, auf dem Christus seine Kirche errichtete. Man könnte meinen: Weniger Eindeutigkeit und mehr Ambivalenz sei kaum möglich.

Und ist Gott nicht selbst mehrdeutig? Zumindest aus Sicht des Menschen darf Gott als ein, wenn nicht das Paradebeispiel für Mehrdeutigkeit gelten. Ein Gott in drei Personen. Einheit in Vielheit. Spätestens bei Gott ist der Wunsch des Menschen nach Eindeutigkeit endgültig zum Scheitern verurteilt. Und das kann auch gar nicht anders sein. Andernfalls würde nämlich unser Verstand Gott umgreifen. In einem solchen Fall wäre das Umgriffene – das ist ironischerweise völlig eindeutig – allenfalls ein „Göttchen“. „Si enim comprehendisti, non est Deus“ – „Wenn Du es begriffen hast, ist es nicht Gott“, heißt es deshalb beim Heiligen Augustinus.

Eindeutigkeit suggeriert Sicherheit. Und in Zeiten, in denen sich so vieles so schnell wandelt, wie in der unsrigen, ist die Sehnsucht nach Sicherheit suggerierender Eindeutigkeit völlig nachvollziehbar. Zumal Eindeutigkeit an sich ja auch nichts Schlechtes ist. Im Gegenteil: Kranke erhoffen sich von Ärzten eine eindeutige Diagnose, Arbeitnehmer von Arbeitgebern eine eindeutige Bewertung ihrer Arbeitsleistung und Freunde ein eindeutiges Bekenntnis zum jeweils anderen. Eindeutigkeit ist also ein Gut. Eines, das – die notwendigen Investitionen vorausgesetzt – auch dort erreicht werden kann, wo sie zunächst gar nicht gegeben ist. Beispiel eindeutige Diagnose: Bei vielen Krankheiten ist eine eindeutige Diagnose ohne eine ausführliche Anamnese sowie Tests zum Ausschluss möglicher anderer Krankheiten nicht zu haben. Dies erfordert vom Patienten und vom Arzt unter Umständen viel Zeit und Geduld sowie in jedem Fall wechselseitiges Vertrauen. Der Patient muss auf die Kompetenz des Arztes vertrauen und dieser in die Aufrichtigkeit des Patienten. Wo dies gegeben ist, lässt sich Eindeutigkeit oftmals erarbeiten.

Symbole sind mehrdeutig, wenn sie kontextlos betrachtet werden

Schlecht ist es nur, Eindeutigkeit dort zu verlangen, wo es sie nicht geben kann oder zu erwarten, dass sie – dort wo sie möglich ist – sich von allein einzustellen habe. Denn Eindeutigkeit ist oftmals kontextbezogen. Wo der jeweilige Bezugsrahmen weggedacht oder ignoriert wird, wird der Mehrdeutigkeit Tür und Tor geöffnet. Symbole sind hier besonders anfällig. Kreuz und Kopftuch etwa sind nur dann wirklich mehrdeutig, wenn sie aus ihrem jeweiligen Bezugsrahmen herausgelöst und kontextlos betrachtet werden. In ihrem jeweiligen Kontext lassen sie sich hingegen meist eindeutig entweder als religiöses Symbol, als kulturelles Relikt oder gar als politisches Statement klassifizieren. Gleiches gilt für Begriffe: Auf einem Thomisten-Kongress etwa meint die Rede vom christlichen Abendland üblicherweise etwas völlig anderes als auf einer Pegida-Kundgebung.

Kurzum: Mehrdeutigkeit ist – weil die Wirklichkeit meist komplex ist – oftmals unvermeidbar. Wo Menschen bereit sind, die dafür nötigen Anstrengungen auf sich zu nehmen, lässt sie sich jedoch innerhalb unterschiedlicher Kontexte in Eindeutigkeit überführen. Ohne Bereitschaft zu einem aufrichtigen Dialog und einem echten Verstehenwollen des jeweils anderen ist das allerdings nicht zu haben. Dass ein anstrengungsloser, Eindeutigkeit suggerierender und fordernder Gebrauch Sozialer Netzwerke dem zuträglich ist, muss bezweifelt werden.

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