Die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade durch den Obersten Gerichtshof ist zweifelsohne eine Antwort auf unsere Gebete. Mit ihrem Urteil in der Rechtssache Dobbs v. Jackson Women‘s Health Organization haben die Richter eine Rechtsprechung beendet, die nahezu fünfzig Jahre Bestand hatte und auf der unhaltbaren Annahme basierte, dass die amerikanische Verfassung es der Regierung implizit verbietet, das ungeborene Kind im Mutterleib vor der Gewalt der Abtreibung zu schützen.
Der Oberste Gerichtshof kam in der Urteilsfindung zu Dobbs zu dem Schluss, dass weder der Verfassungstext noch die Geschichte, auch nicht die amerikanische Rechtstradition oder die Präzedenzfälle des Gerichtshofs die extreme Rechtsprechung im Fall von Roe v. Wade rechtfertigen. Daher gab er die Frage der Abtreibung an die gewählten Volksvertreter zurück, die diese Befugnis seit der Gründung unserer Nation bis zur Roe-Entscheidung von 1973 ausgeübt hatten. Damit hat der Oberste Gerichtshof im Urteil zu Dobbs den Weg für einen Paradigmenwechsel im amerikanischen Recht geebnet und es ermöglicht, seine Grenzen so zu erweitern, dass ein Teil der menschlichen Familie wieder aufgenommen werden kann, der sich fast ein halbes Jahrhundert lang außerhalb von dessen Schutzbereich befand.
Dobbs ist also ein Sieg für die Gerechtigkeit, die Rechtsstaatlichkeit und die Selbstverwaltung. Aber für diejenigen unter uns, die dafür gebetet haben, dass dieser Moment kommen möge, ist es an der Zeit, unsere Bemühungen um den Aufbau einer Kultur des Lebens und einer Zivilisation der Liebe zu erneuern und neu auszurichten. Gerechtigkeit ist natürlich eine Grundvoraussetzung für die Erreichung dieses Ziels. Aber sie reicht nicht. Um eine Welt zu errichten, in der alle willkommen sind, bedarf es nicht nur der Gerechtigkeit, sondern auch des Mitgefühls, der Heilung und vor allem der bedingungslosen Liebe.
Paradigmenwechsel hin zur „radikalen Solidarität“
In einer Post-Roe-Welt müssen die Katholiken nun gemeinsam auf einen weiteren, noch tieferen Paradigmenwechsel hinarbeiten. Wir müssen über einen Paradigmenwechsel in der Gesetzgebung hinausgehen, um den Menschen in unserem Land zu helfen, besser zu erkennen, wer wir als Nation sein können, indem wir wirklich verstehen, was wir einander als Mitglieder der gleichen Menschheitsfamilie schulden. Um eine Welt zu errichten, in der alle willkommen sind, müssen wir die Worte der heiligen Teresa von Kalkutta beherzigen und uns daran erinnern, „dass wir zueinander gehören“. Abtreibung ist ein grausames Zeichen dafür, dass wir unsere gegenseitige Zugehörigkeit vergessen haben. Die Logik von Roe vs. Wade hat unseren nationalen Diskurs über die Abtreibungsfrage als Nullsummenkonflikt zwischen Individuen gestaltet, die einander fremd sind. Die tatsächliche Wahrheit ist jedoch, dass Mutter und Kind einander nicht fremd sind; sie sind bereits durch Fleisch und Verwandtschaft miteinander verbunden. Das neue Leben, das sich unter dem Herzen der Mutter entwickelt, ist bereits in ein Beziehungsgeflecht eingebunden, welches Familie, Nachbarn und Mitbürger umfasst. Die Logik von Roe bietet der Frau im Namen der Autonomie nur das Recht, tödliche Gewalt gegen ihr Kind anwenden zu lassen, lässt sie aber ansonsten im Stich.
Mitglieder der Menschheitsfamilie
Im Gegensatz dazu erkennt die Logik der Kultur des Lebens an, dass die schwangere Frau und ihr Kind nicht allein sind - sie sind Mitglieder unserer größeren menschlichen Familie, deren ineinander verwobene Verletzlichkeit eine Aufforderung an uns alle ist, die aber aufgrund der Lehre Jesu und seiner Verkündigung des Evangeliums vom Leben besonders an die Katholiken ergeht. In der Tat erkennen Katholiken im Leben der Heiligen Familie eine Lehre für die ganze Gesellschaft: Maria, die nicht nur „Ja“ zum Leben sagte, sondern ihr Kind sein ganzes Leben lang begleitete und für es sorgte; Josef, der den unerwarteten Herausforderungen und Bedrohungen für das Kind mit Stärke und Mitgefühl begegnete; und Jesus selbst, der nicht mit Macht und Majestät, sondern mit der Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Demut eines Kindes auf die Welt kam.
In einer Welt nach Roe müssen wir daher einen Paradigmenwechsel hin zu dem vollziehen, was der heilige Papst Johannes Paul II. als „radikale Solidarität“ bezeichnet hat, indem wir das Wohl der anderen zu unserem eigenen Wohl machen – insbesondere das der Mütter, der (geborenen und ungeborenen) Kinder und der Familien während der gesamten menschlichen Lebensspanne. Es ist ein Aufruf zu Freundschaft und Mitgefühl. Er wurzelt in der Wahrheit, dass wir dazu geschaffen sind, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst.
Die Wahrheit mitfühlend aussprechen und leben
Was bedeutet das konkret? Wie praktizieren wir radikale Solidarität und bedingungslose Liebe in einer Welt nach Roe? Erstens, indem wir die Wahrheit aussprechen, dass Abtreibung nicht nur ungerech- terweise ein ungeborenes Kind tötet, sondern auch Frauen, Männer, Familien und die Nation als Ganzes schwer verwundet. Sie entwürdigt das ärztliche Handeln und korrumpiert das Recht. Wir müssen diese Wahrheiten mit Mitgefühl aussprechen, und wir müssen diese Wahrheiten mit Mitgefühl leben. Wir müssen die Hand des Mitgefühls all denjenigen reichen, die unter den Folgen der Abtreibung leiden oder in Not sind, und auch denen, die die Wahrheit noch nicht in ihrer Fülle erkennen. Darüber hinaus zwingt uns der Aufruf zur Liebe, uns in Höflichkeit und Nächstenliebe zu üben, wenn wir mit und über diejenigen sprechen, mit denen wir nicht einer Meinung sind.
Worte allein reichen nicht annähernd aus, um die Revolution der Liebe herbeizuführen, die es braucht, um eine Welt zu schaffen, in der alle Mütter, Kinder und Familien willkommen und geschützt sind. Dazu müssen wir den Mut haben, zu lieben – zu handeln und Zeugnis zu geben, indem wir uns um die Geringsten unter uns kümmern, und zwar ohne Bedingungen zu stellen oder eine Gegenleistung zu erwarten. Nur durch ein solches radikales Zeugnis werden die Herzen so erweicht werden, dass sie die Wahrheit des Evangeliums vom Leben aufnehmen können.
Radikale Solidarität
Konkret bedeutet dies, wie der heilige Papst Johannes Paul II. in seinem Brief an die Vierte Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen schrieb: „Eine radikale Solidarität mit den Frauen erfordert, dass die Ursachen, die ein Kind ungewollt machen, bekämpft werden.“ Fünfundzwanzig Jahre später, im Jahr 2020, hat Papst Franziskus in seiner Ansprache an die Vereinten Nationen diese Haltung bekräftigt. Abtreibung ist eine brutale Folge unseres Versagens darin, füreinander zu sorgen. Der Aufbau einer Welt, in der Frauen geachtet, Kinder geliebt und beschützt werden, in der Männer aufgerufen sind, ihrer Verantwortung als Väter nachzukommen, erfordert, dass wir das komplexe und tragische Geflecht von Leid und Streit, das in der Gewalt der Abtreibung gipfelt, verstehen und angehen. Dies ist ein gewaltiges und erschreckendes Unterfangen.
Glücklicherweise haben Katholiken bereits ein solides Fundament in Form der jahrhundertelangen Ermutigung der Kirche zu elterlichen und gesellschaftlichen Pflichten. Millionen einzelner Katholiken aus allen Lebensbereichen bemühen sich bereits persönlich darum, die Bande der Solidarität und des Mitgefühls in unserer Gesellschaft zu knüpfen. Viele engagieren sich in Pfarreien und Gemeinden in Initiativen wie Schwangerschaftsberatungsstellen, in der Beratung nach Abtreibung und seit kurzem auch bei der Initiative „An der Seite von Müttern in Not“.
Hilfsangebote für Eltern
Die katholische Kirche ist der größte karitative Anbieter von Sozialleistungen für Frauen, Kinder und Familien in den Vereinigten Staaten, einzig übertroffen von der Bundesregierung, die hierfür Steuergelder verwendet. Katholiken haben auf institutioneller wie auch auf persönlicher Ebene bereits viel getan, um die Probleme der Armut, der Gesundheitsfürsorge, der Bildung, des Wohnens, der Arbeit, der Sucht, der Strafjustiz, der häuslichen Gewalt und dergleichen anzugehen, die Frauen zur Abtreibung drängen. Unsere Kirche weiß, dass Eltern, Kinder und Familien nicht nur während der Schwangerschaft Hilfe brauchen, sondern während des gesamten Lebensweges, weil Millionen von Katholiken bereits ihre Nächsten in solchen Situationen begleiten. Darüber hinaus beinhaltet diese Hilfe auch die Begleitung derjenigen Eltern, die sich mutig dazu entschließen, ihr Kind zur Adoption freizugeben, ihm so einen Ort echter Zugehörigkeit zu bieten und es als Sohn oder Tochter in einen neuen Familienstammbaum einzufügen. Und die Kirche bietet auch jenen Frauen und Männern Heilung und Barmherzigkeit an, die wegen einer früheren Abtreibung leiden. Jetzt aber müssen wir noch mehr tun.
Eine neue Politik
Unsere Nation bedarf dringend der Heilung von der toxischen Polarisierung und dem Zorn, die in den letzten Jahren in so großem Ausmaß so viel von unserem politischen Handeln vergiftet haben. Ein Paradigmenwechsel weg vom als Freiheit getarnten Alleinlassen der Frauen hin zu radikaler Solidarität kann den Weg zu einer neuen Politik öffnen. Diejenigen, die uneins sind in der Frage der Moral oder Gerechtigkeit von Abtreibungen, sollten dennoch zusammenfinden, um Lösungen auf einer gemeinsamen Basis zu finden, die Müttern, Kindern und Familien in Not Hilfe und Unterstützung bieten. Öffentliche Amtsträger können neue Wege beschreiten, um die politische Spaltung in links und rechts zu überwinden und eine neue Koalition von Menschen guten Willens zu formen, die sich auf die besten Ergebnisse für die Bedürftigen konzentriert, und zwar mit genau den Mitteln – öffentlich oder privat –, die sich als am effektivsten erweisen.
Schlussfolgerung
Fast fünfzig Jahre nach Roe v. Wade hat der Oberste Gerichtshof dem amerikanischen Volk endlich die Befugnis zurückgegeben, in der Frage der Abtreibung selbst zu entscheiden. Natürlich ist es eine Frage der Gerechtigkeit, den grundlegenden Schutz des Gesetzes gegen Gewalt auch auf das ungeborene Kind auszudehnen. Aber Gerechtigkeit allein ist nicht genug. Die Gelegenheit, die der Oberste Gerichtshof uns gegeben hat, ist keine Gelegenheit, zurückzublicken und in die Vergangenheit zurückzukehren. Stattdessen ist es ein Aufruf an die Katholiken auf allen Ebenen, nach vorne zu schauen und eine bessere Zukunft aufzubauen – eine Zukunft, in der die neuen Merkmale unserer Gesellschaft Solidarität, Mitgefühl, Versöhnung und eine neue Einheit als Nation sein werden. Wir sind keine versprengten Individuen, die versuchen, ihren Willen in einer Welt des Unfriedens durchzusetzen. Vielmehr gehören wir zueinander, und jeder von uns ist für die Liebe und die Freundschaft erschaffen. Deshalb müssen wir in radikaler Solidarität mit Müttern, Kindern und Familien in Not leben und handeln. Das bedeutet, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun müssen, um ihnen durch Gesetz, Politik und Kultur die Fürsorge und Unterstützung zukommen zu lassen, die sie brauchen, um sich auf dem gesamten Lebensweg zu entfalten. Durch unser gemeinsames Handeln und das Handeln eines jeden Einzelnen können wir eine Kultur des Lebens und eine Zivilisation der Liebe in Amerika aufbauen. Lasst uns beginnen.
Der Autor ist Vorsitzender des Komitees für Lebensschutz-Aktivitäten der US-amerikanischen Bischöfe. Die Übersetzung aus Amerikanischen besorgte Cornelia Kaminski.
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